Süddeutsche Zeitung

Justiz in den USA:Freigekauft

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Wer in Untersuchungshaft muss, ist in den USA oft eine Frage des Geldes. Doch das System der Kaution gerät in die Kritik.

Von Thorsten Denkler, New York

Wer in den USA wegen eines ernsten Vergehens festgenommen wird, dem gibt der Haftrichter in den meisten Staaten zwei Möglichkeiten, bis zum Beginn der Hauptverhandlung auf freiem Fuß zu bleiben: Entweder wird die vom Haftrichter festgelegte Kaution bar auf den Tisch gelegt. Oder ein so genannter "Bail Bond Agent" springt ein und begleicht die Kaution. Gegen eine Gebühr, versteht sich: Zehn bis 15 Prozent muss der Angeklagte an die Agentur zahlen. Ein System, das zunehmend in die Kritik gerät, weil es Armut kriminalisiere.

40 Prozent der Bürger haben laut einer Erhebung der US-Zentralbank aus dem Jahr 2018 aber nicht einmal einen Notgroschen von 400 Dollar zur Verfügung und können sich das nötige Geld, falls etwas Unvorhergesehenes passiert, auch nicht schnell durch den Verkauf oder die Verpfändung von Eigentum beschaffen. Für kleinere Delikte wird aber oft schon eine Kaution von 500 bis 1000 Dollar verlangt; die Kaution soll sicherstellen, dass der Angeklagte auch zur Gerichtsverhandlung erscheint und nicht etwa untertaucht. Bei Nichterscheinen fällt sie an den Staat. Für ernste Straftaten sind 10 000 Dollar Kaution die Regel; die Gebühr für den Kautionsagenten ist da das kleinere Übel.

Aber selbst die können sich die allermeisten nicht leisten. Zwei Drittel aller Angeklagten landen in den USA - schuldig oder nicht - in Untersuchungshaft, fast 500 000 Menschen sind es derzeit. Sie riskieren damit ihren Job, ihre finanzielle Existenz, den Zusammenhalt der Familie. Ob ein Verdächtiger freikommt oder nicht, hängt also oft nicht davon ab, ob der Haftrichter ihn zum Beispiel für eine Gefahr für die Allgemeinheit hält - sondern allein davon, ob er es sich leisten kann, frei zu sein.

Für die Kautionsagenturen ist das vor allem ein gutes Geschäft. Landesweit sollen in den USA mehr als 25 000 davon aktiv sein und geschätzt ein Zwei-Milliarden-Dollar-Business unter sich aufteilen.

Das ganz große Geschäft machen neun landesweite Versicherungskonzerne. Sie stehen an der Spitze der Bail-Bond-Nahrungskette. Auf dem Papier sichern sie Bail Bonds für den Fall ab, dass ein Angeklagter nicht vor Gericht erscheint. In Wahrheit kommt das Geld nie "aus deren eigener Tasche", sagt Andrea Woods von der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU).

Für die großen Versicherungen sind die Bail Bonds ein Geschäft ohne Risiko. Sie haben es so konstruiert, dass sie kein Geld verlieren können. Das funktioniert so: Bail-Bond-Agenten, die sich von einer der großen Versicherungen rückversichern lassen, müssen neben der Prämie auch noch Geld in einen sogenannten Aufbau-Fonds einzahlen. Kommt es zum Schadensfall, zahlt die Versicherung die Kaution nicht etwa aus den Prämienerlösen. Sondern aus ebendiesem Fonds. Bezahlt werden die Konzerne nur dafür, dass sie gegenüber dem Staat als Bürgen für den Agenten auftreten, falls der eine fällige Kautionssumme nicht zahlen kann. Was dank des Fonds aber so gut wie nie vorkommt.

Bürgerrechtsgruppen wie ACLU oder das "Bail Projekt" kämpfen seit Jahren gegen dieses System an, das es weltweit nur in den USA und auf den Philippinen gibt. Einige wenige US-Städte haben es abgeschafft. Zu den ersten gehörte Washington D.C., dort werden 94 Prozent aller Festgenommen ohne Kaution wieder freigelassen. Von ihnen erscheinen 88 Prozent zu ihren Gerichtsterminen. Mehr als im Schnitt der USA.

Im Staat New York trat am 1. Januar eine Reform in Kraft: Verdächtige, die sich eines geringfügigen und vor allem nicht-gewaltsamen Vergehens schuldig gemacht haben, kommen ohne Kaution auf freien Fuß. Wäre die Reform schon 2018 in Kraft gewesen, dann wären mehr als 20 000 Verdächtige auf freien Fuß gekommen - zwei Drittel aller Kautionsfälle. Es ist zu erwarten, dass die ein oder andere Bail-Bond-Agentur in New York diesen Einschnitt nicht überleben wird.

Woanders waren Reformen nicht so erfolgreich: In Kalifornien wurden Bail Bonds zwar seit 2018 per Gesetz abgeschafft, aber das Gesetz liegt derzeit auf Eis. Denn es gab Proteste, weil das Risiko, ob ein Angeklagter sich nach seiner Freilassung absetzen könnte, von Algorithmen berechnet werden sollte. Unterstützt wurde der Protest von der Bail-Bond-Lobby.

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SZ vom 07.01.2020
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