Süddeutsche Zeitung

Japan: Verschwundene Hundertjährige:Raffgier statt Reiselust

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Hausbesuch bei Hundertjährigen: Japanische Beamte kontrollieren, ob die Greise noch leben. Jetzt fanden sie das Skelett einer greisen Frau im Rucksack ihres Sohnes - er hatte neun Jahre lang die Rente der Toten kassiert.

Tokio - In Japan leben 40.000 Hundertjährige, doch seit einiger Zeit fragen sich die Sozialdienste, wie viele von ihnen wirklich noch leben. Im Tokioter Stadtteil Ota besuchte ein Beamter die Familien einiger der rüstigen Greise. Kikue Mitsuishi, die 104 Jahre sein müsste, schien nicht zu Hause zu sein. Die Polizei wurde gerufen. Endlich gab der 64-jährige Sohn zu, seine Mutter sei seit neun Jahren tot. Die Polizisten fanden in der Wohnung einen Rucksack, in dem er ihr Skelett aufbewahrte.

Als Ende Juli im Stadtteil Adachi die mumifizierte Leiche von Sogen Kato gefunden wurde, der als 111-Jähriger registriert war und dem der Staat noch immer Rente zahlte, begannen alle lokalen Verwaltungen in Japan, ihre Hundertjährigen zu besuchen. Sie fanden heraus, dass mehr als 200 nicht mehr leben. Kato soll schon vor 30 Jahren gestorben sein.

Auf der Suche nach abwesenden Greisen hörten die Beamten mehrmals, diese hätten sich abgesetzt. Das kommt tatsächlich vor. Besonders alte Männer schleichen sich davon, etwa wenn sie hoch verschuldet sind, um der nächsten Generation nicht zur Last zu fallen. Unter Tokios Obdachlosen gibt es nicht wenige Alte.

Der Sohn Mitsuishis wusste stets, wo seine Mutter war. Als sie starb, wohnte er mit ihr im Stadtteil Bunkyo. Er hätte kein Geld für ein Begräbnis gehabt, daher habe er den Tod der 95-Jährigen nicht gemeldet. Er zerlegte ihr Skelett und packte es in den Rucksack. Drei Jahre später zog er um. Die Tote meldete er im neuen Stadtteil an und bezog Rente für sie.

Wer in Japan hundert Jahre alt wird, erhält einen Brief und ein Geschenk vom Premier. Der Stadtteil schickte Frau Mitsuishi seither zu jedem Geburtstag umgerechnet 1300 Euro.

Die Polizei ermittelt nun gegen ihren Sohn wegen illegalen Bezugs einer Pension und Schändung einer Leiche. Christoph Neidhart

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Quelle:
SZ vom 30.08.2010
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