Süddeutsche Zeitung

Höxter-Prozess:Ein Plädoyer, das überrascht

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Von Hans Holzhaider, Paderborn, Paderborn

Verblüffung im Gerichtssaal: Fast zwei Jahre hat die Schwurgerichtskammer in Paderborn über die Vorgänge im sogenannten "Horrorhaus von Höxter" verhandelt, hat aus dem Mund der Angeklagten Angelika Wagener Berichte über abscheuliche Misshandlungen von Frauen gehört, die schließlich zum Tod von Anika W. und Susanne F. geführt hatten - und nun beantragt der Verteidiger Peter Wüller den Freispruch seiner Mandantin in allen Anklagepunkten. Damit übertrumpft er noch die Verteidiger von Angelika Wageners Ex-Ehemann Wilfried, die für ihren Mandanten eine Freiheitsstrafe von siebeneinhalb Jahren gefordert hatten. Der Staatsanwalt hatte für beide Angeklagte lebenslange Freiheitsstrafen beantragt.

"Ich habe keinerlei Zweifel, dass in diesem Haus über zehn Jahre hinweg übelste, perverse, teilweise unbeschreibliche Taten stattgefunden haben", sagte Wüller zu Beginn seines Plädoyers. Die beiden Angeklagten hätten nach einem "perfiden Plan" immer wieder neue Opfer in das Haus gelockt, wo diese dann "systematisch entmenschlicht" worden seien. Die Aussage des Staatsanwalts, die Opfer seien "wie Vieh" gehalten worden, treffe nicht zu: "Kühe und Schweine werden besser gehalten."

Aber alle diese "fürchterlichen Taten" müssten "erst einmal ausgeblendet werden", sagte Wüller. Denn: Sie sind nicht Gegenstand der Anklage, weil sie nach Ansicht der Staatsanwaltschaft im Verhältnis zu dem Vorwurf des Mordes an Anika W. und Susanne F. nicht mehr entscheidend ins Gewicht fallen. Und die Morde, begangen durch das Unterlassen rechtzeitiger Hilfeleistung, könnten Angelika Wagener nicht zur Last gelegt werden, sagte Wüller. Im Fall der Anika W. stehe nicht einmal die Todesursache fest, also könne man auch nicht wissen, ob das Unterlassen der Hilfe ursächlich für den Tod war. Bei Susanne F. seien sich die Sachverständigen uneinig, ob die Frau bei rechtzeitiger ärztlicher Hilfe überlebt hätte - also müsse man im Zweifel zugunsten der Angeklagten entscheiden.

"Ich hätte die alte Kuh auch ersaufen lassen", sagte Angelika Wagener im Gerichtssaal

Auch der Vorwurf des versuchten Mordes an Anika W. durch Ertränken könne nicht aufrechterhalten werden, sagte Wüller. Angelika Wagener hatte ausgesagt, sie sei so genervt vom Verhalten der Frau gewesen, dass sie Wasser in die Badewanne laufen ließ, in der das Opfer angekettet war. "Ich hätte die alte Kuh auch ersaufen lassen", sagte Angelika Wagener im Gerichtssaal. Sie habe dann zu Wilfried gesagt: "Die ersäuft jetzt", und habe das viermal wiederholt, bis dieser sich "bequemt" habe, in den Keller zu gehen. Dort habe Anika W. schon "wie Treibgut" ohnmächtig in der Wanne gelegen, ihr Ex-Mann habe sie dann aus der Wanne gezogen. Rechtsanwalt Wüller wertete das als "strafbefreienden Rücktritt" vom versuchten Mord. "Hätte sie wirklich gewollt, dass Anika stirbt, dann hätte sie Wilfried doch nicht angesprochen", sagte Wüller.

Falls das Gericht Angelika Wagener dennoch des Mordes schuldig spreche, müsse die in diesem Fall zwingend vorgeschriebene lebenslange Freiheitsstrafe gemildert werden. Angelika Wagener habe durch ihre freiwillige, umfassende Aussage einen wesentlichen Beitrag zur Aufdeckung und Aufklärung schwerer Straftaten beigetragen, so Wüller. Deshalb sei eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren schuldangemessen und ausreichend. Seine Mandantin sei sich ihrer persönlichen Schuld "durchaus bewusst" und werde eine Haftstrafe in dieser Höhe "ohne Wenn und Aber akzeptieren". Angelika Wagener hat angekündigt, dass ihr letztes Wort mehrere Stunden in Anspruch nehmen wird. Das Urteil soll am 5. Oktober verkündet werden.

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SZ vom 12.09.2018
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