Süddeutsche Zeitung

Hillsborough-Katastrophe:Der Polizist, der die Fluttore nicht öffnen ließ

Lesezeit: 2 min

Von Holger Gertz

Der FC Liverpool ist mit acht Siegen in acht Spielen in die Premier League gestartet, mit nun acht Punkten Vorsprung könnte das Fußballteam von Jürgen Klopp halbwegs entspannt einer großen Saison entgegenblicken. Aber in Liverpool sind sie auch angespannt in diesen Tagen. Denn wenn der FC Liverpool, wie gern behauptet wird, mehr ist als ein normaler Verein, dann hat das auch damit zu tun, dass er in seiner Geschichte mehr zu verarbeiten hatte als andere Vereine. Er ist ein gezeichneter Klub, seit dreißig Jahren kämpft er nicht nur um Titel. Es geht um Gerechtigkeit. Kleiner geht es nicht, in diesem Fall geht es nicht kleiner.

Seit Wochenbeginn wird erneut vor dem Preston Crown Court verhandelt, vor Gericht steht ein inzwischen 75-jähriger Mann, David Duckenfield, er war 1989 gerade zum Chief Superintendent befördert worden. Zur Last gelegt wird ihm, nicht ausreichend für die Sicherheit der Fans gesorgt zu haben bei jenem Spiel, das als Pokalhalbfinale zwischen Liverpool und Nottingham im Hillsborough-Stadion von Sheffield angekündigt worden war und zur Katastrophe wurde.

15. April 1989, kurz vor Spielbeginn drängten sich vor dem Eingang noch Liverpool-Fans. Um eine Panik zu verhindern, ließ Polizeieinsatzleiter Duckenfield ein zusätzliches Tor öffnen. Tausende Menschen drängten durch dieses Öhr, bald waren 3000 Fans in einem Stehtribünenbereich, der für die Hälfte ausgelegt war. Von hinten schob die Menge. Diejenigen, die vorn standen, wurden gegen die Zäune gepresst. Das Spiel lief, Punkt 15 Uhr war es angepfiffen worden, einige der verzweifelten Fans am Zaun riefen ihren Torwart um Hilfe, Bruce Grobbelaar, er stand vor ihnen in seinem Kasten: "Please help us, Bruce!"

Die Polizei hätte Fluchtwege Richtung Spielfeld öffnen müssen, aber wegen der damals noch so gegenwärtigen Angst vor Hooligans blieb alles dicht, die Ordnung sollte erhalten werden.

Die Ordnung war längst zerstört. Das Spiel wurde nach sechs Minuten unterbrochen, um 15.06 Uhr läuten seitdem in Liverpool immer am 15. April alle Glocken und die Busse bleiben stehen. In Erinnerung an 96 Menschen, erdrückt, erstickt, noch im Hillsborough-Stadion gestorben oder später im Krankenhaus. Die Zahl 96 tragen Liverpools Profis heute im Nacken, eingestickt auf dem Trikot.

Bis heute haben die Liverpooler dem Boulvardblatt "Sun" nicht verziehen

Die Katastrophe ist einerseits so präsent wegen der vielen Zeugen im Stadion. Jeder kennt jemanden, der damals in Hillsborough war. Andererseits, das ist wichtiger, sind bei der Aufklärung die Gefühle der Hinterbliebenen verletzt worden. Auch der Fanstolz der Liverpooler Anhängerschaft wurde besudelt, als ihnen in ersten offiziellen Berichten die Schuld an der Massenpanik zugeschoben werden sollte. Die Fans hätten die Katastrophe selbst angerichtet: Das wäre die billigste Lösung gewesen für alle Offiziellen und Sicherheitskräfte und auch für Duckenfields Leute.

Die Sun berichtete, Liverpool-Fans hätten während der Katastrophe andere Opfer bestohlen und Polizisten angepinkelt. Schmähungen eines Boulevardblatts, dem bis heute nicht verziehen worden ist, in Liverpool. Man kriegt die Sun dort praktisch nicht, an vielen Fenstern kleben noch immer Anti- Sun-Sticker: "Not welcome here".

Diese Hartnäckigkeit der Liverpooler Fans, immer unterstützt von den Profis und dem Verein, hat dazu geführt, dass jetzt dieser Prozess gegen Duckenfield stattfindet. Erst war die Katastrophe als Unfall eingeordnet worden, dann wurden in weiteren Untersuchungen die Fehler der Polizei offensichtlich, 2016 urteilten die Richter: Die Fans seien getötet worden, sie hätten keine Mitschuld.

Nach der Verkündung damals stellten sich die Hinterbliebenen vor das Gerichtsgebäude und sangen die Vereinshymne, "You'll never walk alone". Auch wenn das Lied inzwischen dreisterweise überall gesungen wird, es gehört nur nach Liverpool.

Der Prozess gegen David Duckenfield ist die Wiederaufnahme eines Gerichtsverfahrens aus dem Frühjahr. Damals kam es zu keinem Urteil. Diesmal wird frühestens in sechs Wochen mit einem Urteil gerechnet.

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Quelle:
SZ vom 08.10.2019
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