Süddeutsche Zeitung

Gerichtsprozess:Kind in Sack erstickt - Mutter freigesprochen

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Der Vierjährige war 1988 im Haus einer Sekte in Hanau gestorben. Die Anführerin soll der Mutter eingeredet haben, der Junge sei die "Reinkarnation Hitlers".

Es ist ein rätselhafter Fall, mehr als 33 Jahre her. Im Mittelpunkt stehen eine Sekte und der Tod eines vierjährigen Jungen. Nun hat das Landgericht Hanau sich zum zweiten Mal mit der Causa beschäftigt und die Mutter des Jungen, Claudia H., 61, freigesprochen. Die mutmaßliche Anführerin der Sekte, Sylvia D., war vor zwei Jahren zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden, später hob der Bundesgerichtshof das Urteil wieder auf.

Der Sohn von Claudia H. war am 17. August 1988 gestorben, der Vierjährige war in einem über dem Kopf verschnürten Sack erstickt. Viele Jahre hatten die Ermittler den Tod des Jungen für einen Unfall gehalten, erst 2015 war der Fall nach Hinweisen von Sektenaussteigern wieder aufgerollt worden. 2017, 29 Jahre nach dem Tod des Kindes, war dessen Leiche schließlich exhumiert und von Gerichtsmedizinern untersucht worden.

Inzwischen gehen die Ermittler davon aus, dass der Junge an seinem Erbrochenen erstickt ist. Offenbar war das Kind zum Mittagschlaf regelmäßig in den Stoffsack gesteckt worden, an seinem Todestag muss es darin ohnmächtig geworden sein. Wegbegleiter berichten von seelischen Grausamkeiten, Gehirnwäsche, psychischer und physischer Gewalt in der Sekte, die offenbar von Sylvia D. und ihrem Mann Walter, einem ehemaligen Pastor, gegründet worden war. Auch Claudia H. war, zuerst als Studentin, später als promovierte Biochemikerin, Teil der Gruppierung. Der Junge soll schon vor seinem Tod misshandelt worden sein, zitierte die FAZ Aussteiger.

Die Sektenchefin soll dem Vierjährigen nach dem Leben getrachtet haben

Laut Anklage soll die Sektenchefin dem Vierjährigen nach dem Leben getrachtet und der Mutter eingeredet haben, der Junge sei die "Reinkarnation Hitlers, ein Machtsadist und von den Dunklen besessen", mehrfach hatte sie prophezeit, Gott werde ihn zu sich holen. Claudia H. habe deren Weltsicht akzeptiert und sei überzeugt gewesen, dass sie ihrem Kind Gutes tue, erklärte die Staatsanwaltschaft vor dem Hanauer Landgericht. Am Todestag soll sie Sylvia D. das Kind zur Obhut übergeben haben.

Bereits vor zwei Jahren war Sylvia D., heute 75 Jahre alt, wegen Mordes vom Landgericht Hanau verurteilt worden. Die Frau erklärte damals, sie sähe sich auf einer Ebene mit Jesus und empfange von Gott direkt Befehle. Im Mai dieses Jahres verwies der BGH den Fall zur erneuten Verhandlung nach Frankfurt. Die Hanauer Richter hätten sich eingehender damit beschäftigen müssen, ob der Junge durch aktives Tun oder durch Unterlassen von Sylvia D. getötet wurde. Zudem müsse deren Schuldfähigkeit erneut geprüft werden.

Parallel dazu saß in Hanau seit einigen Monaten Claudia H. auf der Anklagebank. Die Mutter habe den Tod ihres Sohnes billigend in Kauf genommen, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Durch die Tötung des Kindes sei die Machtposition der Sektenanführerin gefestigt und auch die Bedeutung von Claudia H. innerhalb der Gruppierung gestärkt worden. Die Anklage hatte deshalb eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen gemeinschaftlichen Mordes für die 61-Jährige gefordert.

Für den von ihr erlittenen Freiheitsentzug sei die Mutter zu entschädigen, entschied das Gericht

Die Verteidigung hatte dagegen auf Freispruch plädiert und eine Entschädigung für die Untersuchungshaft gefordert. Der Junge sei nicht durch das Handeln der Mutter zu Tode gekommen, dafür gebe es keinen Nachweis. Sie sei im Gegenteil "in einem Maß getäuscht" worden, das nur schwer zu ertragen sei. Zeugenaussagen zufolge hätten Claudia H. und ihr Mann vom Umgang der Sektenanführerin mit den Kindern nicht viel mitbekommen. Der Staatsanwaltschaft warf die Verteidigung einen "überbordenden Verfolgungseifer" vor.

Gegen die Mutter war vor einigen Monaten bereits ein Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden, da aus Sicht des Hanauer Gerichts kein dringender Tatverdacht mehr bestand für einen gemeinschaftlichen Mord. Auch für eine Beihilfe zum Mord gebe es "keine gewichtigen Anhaltspunkte", hieß es seinerzeit.

Nun ist das Gericht der Verteidigung gefolgt und hat die Frau freigesprochen. Für den von ihr erlittenen Freiheitsentzug sei die 61-Jährige zu entschädigen, sagte die Vorsitzende Richterin am Dienstagnachmittag. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

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