Süddeutsche Zeitung

Frankreich:In der Schwebe

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Am Mont Blanc bleibt eine Seilbahn stecken, viele Passagiere verbringen eine ganze Nacht in der Gondel. Warum üben Unfälle wie dieser so eine düstere Faszination auf viele Beobachter aus?

Von Sebastian Herrmann

Ein Panorama wie ein Rausch. Gletscher, nackter Fels und der Mont Blanc. Auf der Seilbahnfahrt zwischen der 3842 Meter hohen Aiguille du Midi und der Pointe Helbronner (3462 Meter) in Frankreich ist die Aussicht so spektakulär wie nirgends sonst in der Gegend um den höchsten Berg der Alpen. Für 110 Passagiere verwandelte sich die Szenerie nun aber in eine Aussicht auf Verzweiflung und Panik: Wegen verhedderter Kabel blieben am Donnerstagabend die Gondeln der Seilbahn stecken, 77 Fahrgäste konnten nach drei Stunden in Seilbahngefangenschaft mit Hubschraubern gerettet werden, dann musste die Aktion unterbrochen werden. 33 weitere Passagiere verbrachten eine bange und eisig kalte Nacht in den Gondeln. Am Freitag lief die Seilbahn wieder, alle Fahrgäste konnten in Sicherheit gebracht werden.

33 Fahrgäste mussten eine ganze Nacht in den Gondeln verbringen - bei eisiger Kälte und in beängstigender Höhe.

Italienische Rettungskräfte warten auf ihren Einsatz. 77 Fahrgäste konnten mit Hubschraubern gerettet werden.

Andere Helfer bereiten sich auf dem Gletschermassiv vor.

Der Schrecken hat ein Ende: Eine Frau wird nach der Nacht in der Gondel von Helfern begleitet.

Eine ganze Nacht in einer engen Gondel, unter dem Käfig gähnt der Abgrund - Nachrichten wie diese verursachen selbst bei Unbeteiligten Angst und Stress. Und üben eine finstere Faszination aus.

"Fast jeder ist schon einmal in einer Seilbahn gefahren, dadurch lässt sich die Situation nachempfinden, das erzeugt hohe Empathie mit den Betroffenen", sagt der Sozialpsychologe Dieter Frey von der Universität München. Nicht nur das, viele Menschen werden bei Fahrten mit einer Seilbahn oder einem Sessellift ohnehin von düsteren Gedankenspielen begleitet. Die Gondel ruckelt und schwankt unangenehm heftig, oder die Skier an den Füßen baumeln aus dem Sessellift über einem schroffen Steilhang: Da kreist das Denken rasch darum, ob ein Sturz aus dieser Höhe zu überleben wäre. Was wäre, wenn der Lift stehen bliebe, so wie es 2010 einem Snowboarder im Zillertal passierte, der die eisige Nacht nur überlebte, weil er ein paar Geldscheine verbrannte und sich daran wärmte? Solche Gedankengänge sind vielen vertraut, deswegen berührt das Schicksal der Passagiere in den Gondeln so sehr. Eine plastische, konkrete Gefahr, die sich jeder sofort ausmalen kann.

Viele Passagiere in Frankreich mussten von Rettern, die aus Hubschraubern auf den Gondeldächern abgesetzt wurden, angegurtet und abgeseilt werden. "Das wirkt für die Öffentlichkeit fast wie ein Film", sagt Frey. Das Unglück besteht nicht - wie vielleicht bei einem Flugzeugabsturz - in einem einzigen Knall, sondern es entspinnt sich eine bange Zeit der Ungewissheit. Wie werden die Retter vorgehen, werden sie Erfolg haben, wie geht es den Eingeschlossenen? Solche andauernde Ereignisse erzeugen besondere Spannung. Dadurch rührte zum Beispiel eine Rettungsaktion wie die in Chile, bei der vor gut sechs Jahren 33 verschüttete Bergleute nach 69 Tagen aus der Tiefe gerettet wurde, die ganze Welt zu Tränen.

Für Passagiere einer Seilbahn führt bereits der erlebte Kontrollverlust zu Ängsten. Sie können nichts tun, sie sind ausgeliefert. "Es hat drei Stunden gedauert, es war sehr, sehr lang. Man ist isoliert, man wartet", sagte ein Mann, der bereits am Donnerstagabend aus einer Kabine geholt wurde, dem Radiosender France Info. Es reicht umgekehrt bereits, das Gefühl zu haben, man könne eine Situation beeinflussen, um sie besser zu ertragen. In Experimenten ertragen Menschen Schmerzen schon leichter, wenn sie nur auf einen sinnlosen Knopf drücken können. Aus dem gleichen Grund löst Autofahren geringere Ängste aus als Fliegen: Die Hand am Steuer erzeugt die Illusion, das Risiko sei beherrschbar, man habe es selbst im Griff. Im Flieger können die Passagiere nur sitzen und hoffen.

In einer Seilbahn erleben die Fahrgäste diese Machtlosigkeit noch stärker. "Sie wird von den Sinneseindrücken in der Gondel verstärkt", sagt Frey. Die Kälte, das Schaukeln - und vor allem die Höhe, die Ausgesetztheit: Anders als im Flugzeug stellt sich der Abgrund ganz konkret dar. Drastisch ausgedrückt: Aus der Seilbahnkabine lässt sich der Felsen betrachten, an dem der eigene Körper zerschellen könnte. Emotionale Anspannung wiederum verstärkt die Wahrnehmung eines Abgrundes, er wirkt dann noch tiefer. In solchen Momenten fühlt sich das Seil der Gondel nach einem seidenen Faden an.

Dann schießen Eingeschlossenen wie auch dem Medienpublikum wieder die Erinnerungen an andere Seilbahnunglücke durch den Kopf. Daran, wie ein Transporthelikopter im Ötztal einen 750 Kilogramm schweren Betoneimer an eine Gondel rammte und neun Menschen starben. Daran, wie US-Kampfjets in den italienischen Alpen das Seil einer Gondel im Tiefflug durchtrennten und 20 Menschen in den Tod stürzten. Und vielleicht daran, dass es im Mai 2013 an der gleichen Seilbahn in Frankreich schon einmal zu einem Zwischenfall gekommen war. Damals mussten 250 Menschen per Hubschrauber von einer Zwischenstation abgeholt werden.

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SZ vom 10.09.2016
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