Süddeutsche Zeitung

"Norman-Atlantic"-Katastrophe:Dutzende Vermisste befürchtet

Lesezeit: 3 Min.

Verbleib Dutzender Menschen unklar

Am Montagnachmittag um 14:50 Uhr twitterte die italienische Küstenwache, dass Kapitän Argilio Giacomazzi sein Schiff, die Norman Atlantic, als Letzter an Bord verlassen habe. Mehr als 36 Stunden lief zu diesem Zeitpunkt die Rettungsaktion für die vor der griechischen Insel Korfu in Brand geratene Fähre. Evakuierung abgeschlossen, alle verbliebenen Passagiere in Sicherheit - so die Botschaft, der sich auch Italiens Ministerpräsident Matteio Renzi anschloss. Er bedankte sich bei den Einsatzkräften. "Es macht mich stolz, wie unsere Leute eine noch schlimmere Katastrophe abgewendet haben", so der Regierungschef.

Doch inzwischen zeigt sich, dass diese Einschätzung möglicherweise verfrüht war. Italienische und griechische Medien berichten, dass nach dem Fährunglück in der Adria der Verbleib von Dutzenden Menschen noch unklar ist. Bis zu 38 Menschen würden möglicherweise noch vermisst.

Suche im Inneren der Norman Atlantic

Der griechischen Küstenwache zufolge wurden 427 Menschen gerettet. Zehn Tote wurden bisher beborgen, wie der italienische Transportminister Maurizio Lupi bestätigte. An Bord waren der Passagierliste zufolge allerdings 478 Menschen - der Verbleib der restlichen 43 Menschen ist ungeklärt. Möglicherweise waren außerdem noch blinde Passagiere an Bord. Dementsprechend könnte es weitere Tote geben. Diese Furcht nährte der griechische Minister für Handelsschifffahrt, Miltiadis Varvitsiotis: Er sagte im Fernsehen, unter den Geretteten seien zwanzig Menschen, die nicht auf der Passagierliste standen.

Die italienische Regierung betonte, es sei zu früh, eine Zahl von Vermissten zu nennen. "Wir hoffen, dass es keine weiteren Vermissten gibt", sagte Lupi. Die Passagierliste sei möglicherweise nicht korrekt. Die italienische Marine teilte am frühen Abend mit, dass die Rettungsoperation weitergehe, gab aber keine aktuelle Zahl zu Geborgenen bekannt.

Der Sprecher der griechischen Küstenwache sagte, im Inneren der Norman Atlantic werde weiter gesucht. Beide Operationszentren seien in ständigem Kontakt, um die Liste der Geretteten mit der Passagierliste abzugleichen. Der Generalinspekteur der Küstenwache sei nach Italien unterwegs. Möglicherweise kämen auch Spezialisten zur Untersuchung des Inneren des Schiffes.

Medien spekulieren bereits über Abstimmungsprobleme zwischen den Ländern. So soll Griechenland zum Beispiel favorisiert haben, dass die Norman Atlantic ins nähere Albanien geschleppt werde. Doch dies sollen die Italiener, die das Kommando bei der Operation haben, nicht unterstützt haben.

Passagiere kritisieren Verhalten der Crew

Gerettete Passagiere erzählen von dem Chaos, das nach Ausbruch des Feuers an Bord herrschte. "Man wollte Kindern, älteren Menschen und Frauen Vorrang bei der Rettung geben", sagt die griechische Sopranistin Dimitra Theodossiou, die an Bord war, der italienischen Zeitung La Repubblica. Aber einige Männer hätten sich nicht darum geschert, "sie schlugen uns und schoben uns weg, um sich als erste in Sicherheit zu bringen".

Die Passagiere kritisierten auch das Verhalten der Crew. "Man hat uns keine Anweisung gegeben. Es gab nur einen einzigen Notausgang auf Deck sechs in Richtung Bug. Es herrschte dort absolute Panik wegen des Gedränges. Es gab keinerlei Koordination, niemand hat die Leute beruhigt", sagt ein Frau aus Griechenland im Fernsehen. Das größte Rettungsboot für 150 Menschen sei außerdem nur mir 60 Leuten besetzt gewesen.

"Das Personal war praktisch nicht vorhanden", so die Passagierin. Zudem sei das Schiff der griechischen Linie Anek Lines in letzter Minute ausgewechselt worden. "Wir fühlten uns, als ob wir auf einem Schiff in der Dritten Welt reisen sollten."

Ein geretteter Lkw-Fahrer sagte im griechischen Fernsehen, von der Besatzung sei keine Hilfe gekommen. "Es gab keinen Feueralarm, der Rauch hat uns geweckt. Wir mussten Wasser vom Deck trinken und uns mit dem zudecken, was wir gerade finden konnten." Auch die Retter hätten sich nicht gekümmert. "Wir waren zwischen Feuer und Wasser und niemand hat geholfen. Sie haben nicht eine Flasche Wasser oder eine Decke für die Kinder abgeworfen, und die waren zum Teil in Unterwäsche. Es war ein schwimmender Vulkan."

Berichte über Mängel am Schiff

Tatsächlich wurden bei einer Inspektion vom 19. Dezember mangelhafte Dichtungen an einer Feuerschutztür, unzureichende Rettungsmittel und Mängel an der Notbeleuchtung festgestellt. Außerdem habe das Schiff italienischen Medienberichten zufolge keinen klaren Rettungsplan gehabt. Die Mängel hätten demnach binnen 15 Tagen behoben werden sollen.

Der Eigner bestätigte, dass das Schiff am 19. Dezember kontrolliert wurde. Doch von gravierenden Mängeln sei nicht die Rede gewesen. "Die Tests ergaben, dass das Schiff voll funktionstüchtig war", sagte der Reeder Carlo Visentini der Nachrichtenagentur Ansa. Bei der Inspektion sei eine "leichte Fehlfunktion" an einer Brandschutztür aufgefallen, die unmittelbar behoben worden sei. Das sei "zur Zufriedenheit der Inspektoren" erfolgt, deshalb habe das Schiff in vollem Umfang seine Einsätze absolvieren können, fügte Visentini hinzu.

Die Staatsanwaltschaften in Bari und Brindisi leiteten Ermittlungen wegen fahrlässigen Schiffbruchs und fahrlässiger Tötung ein. Geprüft werden auch Vorwürfe, denen zufolge das Autodeck überfüllt war.

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