Süddeutsche Zeitung

Entführtes Mädchen aus Kalifornien:Entkommen nach 18 Jahren

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1991 wurde die elfjährige Jaycee Lee Dugard von einem Sexualstraftäter entführt und dann jahrelang missbraucht. Sie bekam zwei Kinder.

R. Klüver

Als sie aus der Welt gerissen wurde, war sie ein blondes, elf Jahre altes Mädchen mit fröhlichen blauen Augen. Als sie wieder zurückfand, an diesem Mittwoch nach fast zwei Jahrzehnten, war sie eine blonde junge Frau von 29 Jahren mit noch immer auffällig blauen Augen, die zwei verschüchterte blonde Mädchen an sich drückte, offenkundig ihre Töchter, so alt und älter noch als sie selbst damals bei ihrem Verschwinden.

Jaycee Lee Dugard hat im kalifornischen Antioch, einer Vorortgemeinde von San Francisco, allem Anschein nach ein ähnlich unfassbares Martyrium durchlebt wie die Österreicherin Natascha Kampusch. Sie wurde als Kind entführt, vor der Außenwelt versteckt gehalten und von ihrem Peiniger als Sexsklavin missbraucht. Und nur der Zufall und eine Unachtsamkeit ihres Gebieters brachte ihr, wie Natascha Kampusch, die Freiheit zurück.

Zum letzten Mal gesehen worden war Jaycee am 10. Juni 1991. Während sie auf den Schulbus wartete, in Sichtweite ihres Elternhauses südlich vom kalifornischen Lake Tahoe, hielt ein Auto vor ihr. Sie wurde hineingerissen, der Wagen raste davon. Ihr Stiefvater Carl Probyn hatte die Szene beobachtet und alarmierte sofort die Polizei. Jaycee wurde trotz Fernsehfahndung nie gefunden. Ihr Stiefvater geriet unter Verdacht, wurde allerdings nie angeklagt. Die Ehe scheiterte. Ihre Mutter Terry nahm sich seither stets jeweils Weihnachten und am Jahrestag der Entführung Urlaub, um der Tochter zu gedenken.

Weggesperrt im Hinterhof

Ihre Befreiung hat Jaycee Dugard der Aufmerksamkeit einer jungen Polizistin an der Universität Berkeley zu verdanken. Ihr war ein glatzköpfiger Mann aufgefallen, der mit zwei halbwüchsigen Mädchen christliche Erbauungsschriften ohne Genehmigung auf dem Campus verteilte. Als sie seine Papiere überprüfte, stellte sich heraus, dass sie einen Schwerverbrecher auf Bewährung vor sich hatte: den 58 Jahre alten Craig Garrido, mehrmals vorbestraft wegen Entführung und Vergewaltigung. Sie unterrichtete seine Bewährungshelfer und informierte ihn auch über die beiden Kinder in Begleitung des Sextäters.

Zum sofort anberaumten Termin beim Bewährungsbeamten brachte Garrido die beiden blonden Mädchen im Alter von elf und 15 Jahren mit - und eine junge blonde Frau, die er als Allison vorstellte. Erst nach hartnäckigem Nachfragen gestand sie ihre wahre Identität. Garrido wurde sofort festgenommen, wegen Kindesentführung und Missbrauch angeklagt. Seine 55-jährige Frau Nancy wurde wegen Beihilfe ebenfalls in Haft genommen.

Bei der Durchsuchung seines verwahrlosten Grundstücks in der Walnut Avenue am Rand von Antioch stellte die Polizei einen Durchgang zum hinteren Teil des Geländes fest, der den Bewährungshelfern bei Hausbesuchen nie aufgefallen war. Dort hatte Garrido unter blauen Zeltplanen und in einem Schuppen Jaycee und ihre beiden Töchter festgehalten, die er offenkundig mit ihr gezeugt hatte.

Es gab ein Plumpsklo und eine einfache Dusche. Der Schuppen war schallisoliert und nur von außen zu öffnen. Keines der Kinder hat offenbar jemals eine Schule besucht oder auch nur einen Arzt gesehen. Jaycee und ihre Kinder seien "in völliger Abgeschlossenheit" gehalten worden, erklärte der Sheriff von El Dorado County nach der Durchsuchungsaktion.

Es ist nicht so, dass den Leuten in der Walnut Avenue nichts aufgefallen wäre. Der merkwürdige Kerl in ihrer Nachbarschaft war ihnen schon komisch vorgekommen. Immerhin war Garrido als Sextäter vorbestraft, und das war auch bekannt: Im kalifornischen Register für Sexualstraftäter waren sein Name und seine Adresse aufgeführt; jederzeit war das im Internet nachlesbar.

Doch die meisten hielten ihn offenbar einfach nur für durchgeknallt. Gerade im ländlichen Amerika gibt es viele exzentrische Typen, die sich von anderen Menschen fernhalten und eigenwilligen Leidenschaften frönen. So lange sie keinen belästigen, kümmert sich weiter niemand um sie.

Garrido war zuvorkommend, half erst vor kurzem einer Nachbarin, deren Auto nicht anspringen wollte. Dass er behauptete, Gottes Stimme in einer Kiste einfangen zu können, nahm man hin. Auch dass er ein Missionszelt aufbaute und vorgab, mit Engelszungen sprechen zu können. Religiöse Sektierer gibt es in den USA schließlich genug. Da fiel einer wie Garrido nicht wirklich aus dem Rahmen. Und dass er die Frauen auf seinem Grundstück von der Außenwelt abschottete, passte ebenfalls dazu.

Tatsächlich hatten die Nachbarn die junge Frau und die beiden Mädchen schon gesehen. Eine Nachbarin, ebenfalls eine junge Frau, hatte sogar den Sheriff angerufen, weil ihr alles unheimlich vorkam. "Die Mädchen sahen alle gleich aus, und sie sprachen kein Wort", erzählt Erika Pratt. Doch der Sheriff beschied sie, dass er ohne Durchsuchungsbefehl nichts machen könne. Er werde ein Auge auf Garrido haben, versprach er. So richtig hat er sich an sein Versprechen nicht gehalten.

"Sie klingt ganz normal"

Pratt machte noch eine Angabe, die nicht wirklich beruhigend wirkt. Sie will neben Dugard und ihren Töchtern zwei weitere, etwa vier Jahre alte Mädchen auf dem Grundstück gesehen haben. Die Polizei hat diese Mädchen nicht gefunden, als sie nach der Festnahme Garridos das Haus und den Hinterhof durchsuchte. Offen ist auch die Frage, ob die beiden Töchter Dugards von ihrem Vater ebenfalls missbraucht worden sind.

Jaycee Dugard wurde nach ihrer Befreiung von den Behörden zusammen mit ihren Kindern in einem Motel in Antioch untergebracht. Dort ist sie - nun zu ihrem Schutz - noch immer von der Welt abgeschirmt, die sie zuletzt als kleines Mädchen gesehen hat. Nur ihre Mutter Terry durfte bisher zu ihr. "Sie klingt ganz normal", erklärte ihr Stiefvater Carl Probyn nach einem Telefonat mit seiner inzwischen von ihm getrennt lebenden Frau. "Sie hat ihr gesagt, dass sie sich an alles ganz genau erinnert."

Auch ihr Peiniger hat sich schon zu Wort gemeldet, in einem wirren Telefoninterview mit dem Fernsehsender KCRA in Sacramento. So etwas ist in den USA möglich. "Warten Sie nur, wenn Sie hören, was in meinem Haus passiert ist", sagte Garrido dort mit sich leicht überschlagender Stimme. "Sie werden absolut beeindruckt sein. Es war widerwärtig, was mit mir am Anfang passiert ist. Aber ich habe mein Leben in Ordnung gebracht."

18 Jahre und 77 Tage hat er Jaycee festgehalten.

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Quelle:
SZ vom 29.08.2008
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