Süddeutsche Zeitung

Justiz:Im Zweifel gegen das Virus

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Wegen der Ansteckungsgefahr durch Corona werden Prozesse unter besonderen Bedingungen fortgesetzt - oder unterbrochen. Auch der Loveparade-Prozess ist betroffen.

Von Annette Ramelsberger

Der Angeklagte ist 93 Jahre alt, ein gebrechlicher Mann, gegen den auch schon zu normalen Zeiten nur ein paar Stunden pro Tag verhandelt werden darf. In Corona-Zeiten gehört er zur Hochrisikogruppe. Dennoch wurde Bruno D. auch vergangene Woche ins Landgericht Hamburg geführt - denn da griff die Gesetzesänderung noch nicht, wonach ein Prozess wegen des Virus für etwas mehr als drei Monate unterbrochen werden darf.

Ohne die gerade mal 30 Minuten des alten Mannes vor Gericht wäre der Prozess geplatzt. Also musste der Angeklagte trotz Infektionsgefahr kommen: umgeben von medizinisch geschultem Personal, mit Mundschutz und unter Ausschluss der Öffentlichkeit - damit niemand Viren einschleppt.

Die Öffentlichkeit auszuschließen, um keine Viren zu verbreiten, das ginge in anderen Prozessen gar nicht, obwohl bereits viele auf so eine Möglichkeit schielen. Das wäre ein Verstoß gegen die Öffentlichkeit des Strafprozesses. Aber Bruno D. ist ein besonderer Fall: Er soll als junger Mann Beihilfe zum 5000-fachen Mord geleistet haben, weil er Wachmann im Konzentrationslager Stutthof war.

Weil er damals noch nicht volljährig war, wird der Prozess gegen ihn trotz seines Alters vor einer Jugendkammer geführt - und dort ist die Öffentlichkeit normalerweise ausgeschossen - und damit auch mögliche zusätzliche Virenträger.

Die Nerven liegen blank

Es sind besondere Zeiten mit besonderen Maßnahmen. Und nicht überall geht es so geschmeidig wie in Hamburg. Die Angst vor Corona lässt die Meinungen von Richtern und Angeklagten überall im Land aufeinanderprallen. Die Nerven liegen blank.

Auch der seit fast zweieinhalb Jahren laufende Loveparade-Prozess wird von der Pandemie durcheinander gebracht. 21 Menschen starben bei der Massenpanik im Juli 2010, mehr als 650 wurden verletzt. Angeklagt sind drei Mitarbeiter des damaligen Veranstalters. 183 Tage lang wurde bisher verhandelt, zuletzt vor einem Monat. Mitte März hätte es weitergehen sollen, doch eine Richterin wurde vorsorglich unter Quarantäne gestellt. Tests bei ihr und bei einem weiteren beteiligten Richter waren dann aber negativ.

Doch nun hat das Gericht eine Unterbrechung des Prozesses angeordnet und die für kommende Woche angesetzten Termine abgesagt. Die Begründung des Landgerichts Duisburg: Einige Angeklagte sowie Schöffen und Ergänzungsschöffen gehörten zu Risikogruppen. Außerdem befänden sich während des Prozesses durchschnittlich etwa 60 Personen in dem fensterlosen, klimatisierten Sitzungssaal, und das über einen langen Zeitraum.

Ob der nächste Termin am 21. April stattfinden kann, ist unklar. Das Gericht hat die Dauer der Unterbrechung zeitlich nicht eingegrenzt. Theoretisch wäre nach dem neuen, wegen der Corona-Krise erlassenen Regelungen eine Unterbrechung bis Juni möglich. Doch bis zum 24. Juli 2020, dem zehnten Jahrestag der Katastrophe muss ein Urteil gefallen sein, sonst sind die in der Anklage genannten Vorwürfe - fährlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung - verjährt.

Ärger gab es auch bei einem Prozess in Düsseldorf, bei dem am 20. März verhandelt wurde, also zu einem Zeitpunkt, als die meisten Bundesländer längst dazu aufgerufen hatten, wegen der Ansteckungsgefahr möglichst wenig Kontakt mit anderen Menschen zu haben. Kein Desinfektionsmittel, kein Mundschutz, kein Platz zwischen den Stühlen - im Oberlandesgericht der nordrhein-westfälischen Hauptstadt sah nach Ansicht der Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz aus wie in den Zeiten vor Corona.

Das Gericht aber drängte zur Eile: Der Prozess gegen einen Islamisten und seine Frau, denen die Anklage vorwarf, mit dem Nervengift Rizin einen Anschlag auf die Düsseldorfer Innenstadt geplant zu haben, war weit gediehen. Doch dann verließ die Pflichtverteidigerin Basay-Yildiz aus Protest den Gerichtssaal - ihr waren trotz des weitläufigen Raumes die Sicherheitsvorkehrungen gegen das Virus zu lasch.

Das könnte für sie nun richtig teuer werden. Der Vorsitzende Richter forderte eine anwaltliche Erklärung von ihr, dass es sich um eine "einmalige Entgleisung" gehandelt habe. Sonst, so drohte er, werde er ihr die Verfahrenskosten auferlegen, wenn der Prozess wegen ihres Fernbleibens platzt. Das sind nach 35 Verhandlungstagen, der Anhörung zahlreicher Zeugen und der Erstellung von Gutachten mehr als 100 000 Euro. "Mir blieb gar nichts anderes übrig, als zu unterschreiben, dass ich wiederkomme", sagt Anwältin Basay-Yildiz.

Das Gericht hat den Prozess gegen ihre Mandantin nun kurzerhand abgetrennt und den Ehemann der Angeklagten überraschend bereits am Donnerstag verurteilt und schuldig gesprochen. Das Verfahren gegen die Ehefrau geht nun weiter. Und ihre Anwältin muss weiter durch die Republik reisen. Allen Viren zum Trotz.

Auch in Hamburg und München streiten sich Verteidiger mit den Gerichten über die Zumutbarkeit von Prozessen in Zeiten des Coronavirus. Ein ganzer Tag verging am Montag vor dem Landgericht Hamburg nur mit Diskussionen über das Prozedere. Dort sind zwei Männer und eine Frau angeklagt. Sie sollen sich am zweiten Jahrestag der Hamburger G-20-Krawalle zu einem Brandanschlag verabredet haben. Das Trio wurde von der Polizei beobachtet, als es die Brandsätze an einer Parkbank verteilen wollte. Ziel waren laut Anklage das Wohnhaus einer Politikerin und ein Immobilienmakler. Die Verteidiger forderten die Verschiebung des Prozesses und die Freilassung der Inhaftierten. Das Gericht lehnte ab. Die Verteidiger stellten deswegen Befangenheitsanträge.

Umstrittener Prozess gegen zehn Kommunisten

Ganz andere Dimensionen hat das Verfahren gegen zehn türkischstämmige Kommunisten vor dem Oberlandesgericht München. Dort stehen die Plädoyers kurz bevor, nach einem mehr als vier Jahre dauernden Verfahren. Den Männern und Frauen aus ganz Deutschland, der Schweiz und Frankreich wird vorgeworfen, eine kurdische Terrorgruppe in der Türkei mit Spenden unterstützt zu haben.

Der Prozess ist ohnehin seit Beginn umstritten, die Verteidiger werfen der Bundesrepublik vor, ein Auftragsverfahren für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu führen. Der Richter wollte nun angesichts der heranrollenden Corona-Welle noch schnell fertig werden und forderte von den Anwälten aus der ganzen Republik, sie sollten sich einen Mietwagen nehmen, wenn sie wegen des Virus nicht mit dem Zug anreisen wollen. Sie sollten mit dem Auto bis aus Kiel und Berlin nach München kommen.

Es entspann sich ein juristischer Schlagabtausch: Die Verteidiger verwiesen darauf, dass der Hauptangeklagte, ein Folteropfer, über 60 sei und zur Hochrisikogruppe gehört. Der Richter hielt dagegen, dann könne man ja das Verfahren gegen ihn abtrennen und immerhin das gegen die übrigen neun Angeklagten zu Ende bringen. So, wie das auch das OLG Düsseldorf gemacht hatte. Die Verteidiger schrieben eine mehrseitige Gegenvorstellung.

Ein neuer Verteidiger - der nicht reisen muss

Jetzt wird die Verhandlung gegen die zehn Kommunisten bis 21. April verschoben. Aber zur Sicherung des Verfahrens hat das Gericht dem Hauptangeklagten einen weiteren Verteidiger beigeordnet - einen aus München, der sich nicht auf die Reise durch die Republik begeben muss. Egal, ob der Angeklagte mit diesem Anwalt reden will. Und egal, ob sich der Anwalt noch einarbeiten kann, nach 213 Verhandlungstagen.

Vielerorts versuchen Verteidiger nun, eine Unterbrechung der laufenden Prozesse zu erreichen - und stellen dann den Antrag, die Angeklagten wegen der Verzögerung aus der Untersuchungshaft zu entlassen. In Baden-Baden sind sie damit schon mal gescheitert. Dort hat am 9. März der Prozess gegen einen Bauern begonnen, der seine frühere Freundin ermordet haben soll. Wegen Corona wurde der Prozess nun weit in den Mai hinein verschoben. Seine Verteidigung beantragte, den Haftbefehl gegen den Mann aufzuheben. Doch das Oberlandesgericht Karlsruhe entschied am Montag: Corona ist ein guter Grund, die Untersuchungshaft auszudehnen, über die sonst zulässigen sechs Monate hinaus.

Und auch zwei Polizisten, die in Erfurt wegen Vergewaltigung vor Gericht stehen, werden sich nicht sehr viel Hoffnung machen dürfen, dass ihnen das Virus die Freiheit bringt. Ihr Prozess wurde ebenfalls um ein paar Wochen verschoben, weshalb sie fordern, auf freien Fuß gesetzt zu werden. Die beiden sollen im Dienst eine Frau vergewaltigt haben, in Uniform, die Dienstpistole griffbereit. Das wiegt besonders schwer. Den beiden wird sexueller Missbrauch unter Ausnutzung ihrer Amtsstellung und gemeinschaftliche Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall vorgeworfen. Seit Herbst 2019 sitzen sie in Untersuchungshaft. Das Oberlandesgericht Thüringen muss entscheiden, ob die beiden Polizisten freikommen.

Groß sind die Chancen nicht. Und die Entscheidung fällt nicht vor kommender Woche.

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