Süddeutsche Zeitung

Prozess:Neben der Spur

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Ein Lokführer, der mit seinem Zug in zwei Gullydeckel raste, die er zuvor selbst an einer Brücke angebracht haben soll? Über die schwierige Wahrheitsfindung in einem Prozess vor dem Amtsgericht Bad Berleburg.

Von Oliver Klasen, Bad Berleburg

Was ist das für ein seltsamer Prozess? Ein Prozess, in dem die Staatsanwaltschaft zwar vermeintlich verräterische DNA-Spuren des Angeklagten am Tatwerkzeug vorweisen kann, aber keine plausible Theorie, was das Motiv gewesen sein könnte. Ein Lokführer, der einen Anschlag auf den Zug verübt haben soll, in dem er selbst saß. Allein, am frühen Morgen, auf einer Leerfahrt ohne Fahrgäste.

Was könnte ihn getrieben haben? Ist es eine politische Tat? Wollte er Geld erpressen, sich in der Öffentlichkeit wichtig machen? Erreichen, dass er infolge des Unfalls arbeitsunfähig wird? Auf all diese Fragen gibt es am ersten von insgesamt drei angesetzten Prozesstagen keine Antwort. Weder aus der Anklage, die Staatsanwalt Fabian Glöckner in Saal 001 des Amtsgerichts Bad Berleburg verliest und in der nur äußerst knapp eine "nicht bekannte Motivlage" erwähnt wird. Noch aus den Aussagen der Polizisten, die am ersten Tag als Zeugen geladen sind. Noch aus den Worten des Angeklagten, denn der will "zunächst schweigen", wie er zu Protokoll gibt.

Um kurz vor 10 Uhr betreten Thomas C. und sein Anwalt den Saal. Der Angeklagte, 50 Jahre alt und, das wird im Prozess Thema sein, von korpulenter Gestalt, wohnt in Lünen bei Dortmund. Er war Zugführer bei der Hessischen Landesbahn, einem Privatbahnunternehmen, das mehrere Regionalverbindungen betreibt. Derzeit ist er krankgeschrieben. Die Staatsanwaltschaft wirft C. gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr und das Vortäuschen einer Straftat vor. Er soll zwei Gullydeckel so an ein Brückengeländer gebunden haben, dass sie in die Strecke hingen und der Triebwagen damit kollidierte.

Es war exakt 6.04 Uhr am 13. April 2019, als Zugführer C. bei Streckenkilometer 16,7 in Höhe der Brücke "Am Steinchen" eine Notbremsung auslöste. Die etwa 20 Kilometer lange Strecke zwischen den beiden Städten Erndtebrück und Bad Berleburg ist eingleisig, kurvig, nicht elektrifiziert. Es war die erste Fahrt des Tages, die vom nächtlichen Abstellplatz des Zuges zum Startbahnhof in Bad Berleburg führte, um 6.26 Uhr hätte Thomas C. von dort losfahren sollen, dann mit Fahrgästen.

Die Polizisten, die damals zum Tatort gerufen wurden, gingen zunächst davon aus, dass sie es mit einem Anschlag zu tun haben. Taten wie die bei Bad Berleburg nehmen die Ermittler stets sehr ernst. Politisch motivierte Taten gegen Bahnanlagen gab es in der Vergangenheit häufiger, aber auch gewöhnliche Kriminelle, die Geld erpressen wollten, so wie Ende der Siebzigerjahre ein Mann, der sich selbst "Monsieur X" nannte und auf der Rheinstrecke zwischen Karlsruhe und Basel Fernzüge entgleisen ließ. Oder der von den Medien "Herbert der Säger" genannte Erpresser, der Anfang der Neunzigerjahre in Norddeutschland aktiv war und Stücke aus Schienensträngen heraustrennte.

Im Fall Bad Berleburg ermittelt anfangs die Mordkommission. Doch dann, zwei Wochen nach der Tat, die völlig überraschende Wendung: Der Lokführer selbst soll die Tat verübt haben. Die Kripo behandelt ihn nicht mehr als Zeugen, sondern als Tatverdächtigen, durchsucht seine Wohnung und findet dort Schneidewerkzeuge, Handschuhe und eine Seilaufhängung für Fahrräder, bei der offenbar ähnliche Knoten verwendet wurden wie jene, mit denen die Gullydeckel an der Brücke befestigt waren.

"Mein Mandant bestreitet die Vorwürfe"

Aber reicht das, um dem Zugführer die Tat nachzuweisen? Am ersten Prozesstag geht es in mehreren Zeugenaussagen von Polizisten darum, ob der Angeklagte körperlich in der Lage gewesen wäre, die steile und mit Gestrüpp bewachsene Böschung herauf- und wieder herunterzulaufen. Denn das ist sein Entlastungsargument in diesem Prozess. C. behauptet, nach der Tat auf die Brücke gegangen zu sein und die Seile, an denen die Gullydeckel befestigt waren, angefasst zu haben. Auch mindestens einen der Gullydeckel habe er berührt und daran einen öligen Geruch festgestellt. Diese, möglicherweise im Schockzustand getätigte Handlung, würde erklären, warum sich DNA-Spuren an Seil und Gullydeckel befanden.

C. war bei dem Zusammenprall des Zuges mit dem 35 Kilo schweren Gullydeckel unverletzt geblieben, weil er rechtzeitig von seinem Sitz aufgestanden und sich in eine Ecke des Führerstandes gestellt hatte. In den Vernehmungen hat er wohl ausgesagt, dass er an der Brücke irgendeinen Schatten wahrgenommen habe, instinktiv die Notbremse gezogen und dann Schutz gesucht habe.

Die schnelle Reaktion weckte Argwohn. Wie wirkte der Zugführer nach dem Unfall? Einige Polizisten beschreiben C. als sichtbar unter Schock stehend, andere wollen ein "komisches Verhalten" erkannt haben, das sie aber nicht näher spezifizieren können.

Kollegen und Vorgesetzte bei der Hessischen Landesbahn schilderten den Angeklagten in den polizeilichen Vernehmungen als kollegial und hilfsbereit. "Jeder, wirklich jeder" habe gerne mit C. zusammengearbeitet, sagt ein Fahrdienstleiter, der als Zuschauer an dem Prozess teilnimmt. Beschwerden über ihn, das berichtet auch einer der Polizisten vor Gericht, habe es nicht gegeben. C. hatte seinen Hauptwohnsitz in Lünen und unterhielt in Erndtebrück eine Zweitwohnung. An einer Stelle soll er gegenüber einem Kollegen einmal einen Versetzungswunsch geäußert haben. "Ja, ich wollte weg", sagt C. am Ende des Prozesstages draußen vor dem Gebäude. Aber der Wunsch, einen kürzeren Arbeitsweg zu haben, sei doch kein Motiv für eine solche Tat.

Kurios wird es, als der Richter Torsten Hoffmann Whatsapp-Nachrichten vorliest, die der Angeklagte nach dem Vorfall mit Freunden austauschte. Der Richter liest auch alle Zwinker- und Lach-Smileys mit. "Na, wirst du jetzt berühmt", lautete eine der Nachrichten. Sie bezog sich auf das riesige Interesse der Medien an dem Fall.

"Mein Mandant bestreitet die Vorwürfe", sagt C.s Anwalt Dennis Tungel in einer Prozesspause. Am Ende des ersten Prozesstages ist er zuversichtlich. Man werde C.s Unschuld beweisen, er sei sich sicher, dass sich die Vorwürfe nicht aufrechterhalten lassen. Den Hinweis des Richters zu Beginn, durch ein Geständnis den Prozess abzukürzen, lehnen Tungel und sein Mandant ab.

Der Prozess wird von dem Amtsgericht geführt, dort werden in aller Regel nur Tatbestände verhandelt, bei denen die Strafandrohung weniger als vier Jahre beträgt. Dennoch wird der Angeklagte, wenn ihm der gefährliche Eingriff in den Bahnverkehr nachgewiesen wird, nicht mit einer Geldstrafe davonkommen. Am 2. Oktober soll das Urteil ergehen.

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