Süddeutsche Zeitung

71 Flüchtlinge erstickt:Prozess in Ungarn: Anklage wirft Schleppern "besondere Grausamkeit" vor

Lesezeit: 2 min

Knapp zwei Jahre ist es her, dass ein Kühllaster mit den 71 Leichen auf einer Autobahn im österreichischen Burgenland entdeckt wurde. Die 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder aus Syrien, Irak, Iran und Afghanistan waren erstickt, weil im Laderaum der Sauerstoff ausging.

Seit diesem Mittwoch stehen im ungarischen Kecskemét zehn Männer vor Gericht. Ein weiterer Angeklagter ist flüchtig. Sie alle sollen zu dem Schleppernetzwerk gehören, das auch für den tödlichen Transport nach Österreich verantwortlich war.

Der Prozess findet in Ungarn statt, weil die Flüchtlinge laut Gutachtern noch auf ungarischem Staatsgebiet starben. Zahlreiche Journalisten sind gekommen - die Bilder der erstickten Menschen sorgten damals weltweit für Entsetzen. Von Polizisten flankiert nehmen die Angeklagten an diesem Mittwoch im Saal des Geschworenengerichts Platz, dann wird die Anklage verlesen.

Abgehörte Telefongespräche als Indizien für besondere Grausamkeit

Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, von der Erstickungsgefahr im luftdicht verschlossenen Laderaum des Kühlwagens, gerade einmal 14 Quadratmeter groß, gewusst zu haben und daher mit "besonderer Grausamkeit" vorgegangen zu sein. Sie will deshalb für die vier Hauptangeklagten lebenslange Haftstrafen wegen Mordes und Menschenhandels beantragen. Unter ihnen ein 30-jähriger Afghane, der der Chef der Schleuserbande gewesen sein soll und der 26-jährige Fahrer des Lastwagens, der aus Bulgarien stammt. Für die sieben anderen Angeklagten - sechs Bulgaren und einen Libanesen - will die Staatsanwaltschaft bis zu 20 Jahre Haft beantragen.

Die Beweise sind erdrückend: Die Anklage stützt sich auf abgehörte Telefongespräche. Der Fahrer des Kühlwagens hatte demnach mehrmals darauf hingewiesen, dass die Flüchtlinge im Laderaum schreien und klopfen würden. Daraufhin soll der Bandenführer die Weisung gegeben haben weiterzufahren. "Wenn sie sterben, (...) lade sie in Deutschland in einem Wald ab", ist auf den Tonaufnahmen zu hören.

Für die Schlepperbande war es nicht der einzige Flüchtlingstransport unter menschenunwürdigsten Bedingungen: Laut Staatsanwaltschaft schleuste sie innerhalb von sieben Monaten mehr als 1100 Migranten Richtung Österreich, wobei sie pro Person zwischen 1000 und 1500 Euro verlangte. Einen Tag nach der Entdeckung der 71 Toten im Lkw luden sie erneut 67 Flüchtlinge in einen Kühllaster und fuhren nach Österreich. In diesem Fall erstickte niemand, da die Menschen im Laderaum ein Loch in die Wand treten konnten.

Auch für die ungarischen Behörden ist der Fall unangenehm

Auch die Behörden müssen sich wegen der Mitschnitte unangenehme Fragen gefallen lassen. Bereits seit dem 13. August 2015, also knapp zwei Wochen vor der Todesfahrt, hatten ungarische Ermittler die Telefongespräche der Schlepper abgehört - trotzdem griff niemand ein. Angeblich wurden die Mitschnitte nicht rechtzeitig übersetzt.

Das Gericht hofft, noch in diesem Jahr ein Urteil fällen zu können - doch der Weg dahin ist weit: Das Ermittlungsmaterial umfasst 59 000 Seiten, 15 Sachverständige und sieben Zeugen sollen in den nächsten Wochen gehört werden, 26 Anklagepunkte werden verhandelt. Zudem müssen zehn Dolmetscher zwischen Ungarisch und Paschtu sowie Bulgarisch übersetzen. Bereits am Mittwochmorgen kommt es deshalb zu einem Streit: Der angeklagte Afghane beschwert sich mehrfach über die angeblich mangelnden Sprachkenntnisse der Gerichtsdolmetscherin, die für ihn ins Paschtu übersetzt. Die Dolmetscherin weist die Vorwürfe zurück.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3553868
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/AFP/dpa/afis
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.