Tod im Kühllaster:71 Tote, elf Angeklagte, 59 000 Seiten Ermittlungsmaterial

Grausiger Fund in K¸hl-LKW

Forensiker untersuchen am 27. August 2015 den auf der A 4 bei Parndorf im Burgenland abgestellten Kühllaster.

(Foto: dpa)

Der Fall der im Kühllaster erstickten Flüchtlinge ging 2015 um die Welt. Jetzt hat in Ungarn der Prozess gegen die mutmaßlichen Schlepper begonnen. Wer sind die Angeklagten? Warum hielt die Polizei sie nicht früher auf?

Von Felicitas Kock

Plötzlich war das Grauen ganz nah. Das Grauen, das sich sonst weit weg abspielte, im Mittelmeer vor Lampedusa, in der Ägäis zwischen der Türkei und Griechenland, wo niemand genau weiß, wie viele Menschen jeden Tag auf der Flucht nach Europa ertrinken. Plötzlich, am 27. August 2015, stand ein Kühllaster auf einer Autobahn bei Parndorf in Österreich und man konnte die Toten im Laderaum zählen. Es waren 71. Das Bild der erstickten Menschen ging damals um die Welt.

Jetzt, knapp zwei Jahre später, hat in der ungarischen Stadt Kecskemét der Prozess gegen das Schleppernetzwerk, das die Fahrt organisiert haben soll, mit der Verlesung der Anklageschrift begonnen. Erst seit wenigen Tagen ist klar, dass die Schlepper von der ungarischen Polizei abgehört wurden. Was über den Fall bislang bekannt ist, warum er in Ungarn verhandelt wird - und wer da eigentlich vor Gericht steht, lesen Sie hier:

Was ist passiert?

Am frühen Morgen des 26. August 2015 treffen sich vier Männer in einem kleinen Ort an der ungarischen-serbischen Grenze. Sie haben drei Pkw mitgebracht, außerdem einen Kühlwagen mit ungarischem Kennzeichen und slowakischer Aufschrift. Normalerweise wird darin gefrorenes Geflügelfleisch transportiert. Diesmal sollen es Flüchtlinge sein. Die Menschen werden in den Laderaum gepfercht, dann geht es los, um kurz vor fünf Uhr morgens. Zwei Autos fahren vor dem Kühlwagen, eines dahinter - die Schlepper wollen Polizeikontrollen möglichst früh erkennen.

Bereits wenige Minuten nach dem Start beginnen die Flüchtlinge zu schreien und zu klopfen, das geht aus den Telefongesprächen der Schlepper hervor, die von der ungarischen Polizei abgehört wurden. Das Telefonprotokoll liegt dem Rechercheverbund aus NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung vor.

Der Laderaum des Lkw hat keine Luftzufuhr, es ist heiß, den Menschen an Bord geht der Sauerstoff aus. Einer versucht wohl, ein Loch in die Tür zu sägen. Es klappt nicht. Zuerst ersticken die Kinder, das zeigt später der Obduktionsbericht, zuletzt die größeren Männer, die nah an den Türen stehen. Als der Konvoi gegen Viertel nach neun die Grenze nach Österreich überquert, sind alle tot. Eine halbe Stunde später hält der Transporter in einer Pannenbucht der A 4 Richtung Wien bei Parndorf. Der Fahrer steigt zu einem der Komplizen ins Auto, sie fahren davon.

Am Abend fällt der Kühllaster erstmals einem österreichischen Polizisten auf. Als er den Wagen am nächsten Morgen immer noch in der Pannenbucht stehen sieht, kontrolliert er ihn gemeinsam mit einem Kollegen. Aus dem Fahrzeug tropft Verwesungsflüssigkeit.

Was ist über die Opfer bekannt?

Die Polizei hält noch am gleichen Tag eine Pressekonferenz ab. Die Ermittler geben bekannt, dass es sich bei den Toten um 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder handelt. Eines der Kinder, ein Mädchen, war erst vier Jahre alt, die drei Jungen im Alter zwischen acht und zehn. Bis heute sind nicht alle Opfer identifiziert. Diejenigen, die identifiziert werden konnten, stammten aus Syrien, aus dem Irak, Iran und Afghanistan. Über manche ist hierzulande kaum etwas bekannt, bei anderen haben Angehörige mit den Medien gesprochen.

Wie Abdul Samad Ihsan Baba, dessen Bruder Mohamed in dem Lastwagen ums Leben kam. Die Familie stammt aus Kirkuk im Irak. Baba kann sich nicht erklären, warum sein Bruder in den Laderaum stieg. Der 24-Jährige sei ein kluger junger Mann gewesen, der erkannt haben musste, dass eine Fahrt mit so viele Menschen auf so engem Raum nicht gutgehen könne. Warum ließen sich all diese Menschen in den Laster drängen? Eine Frage, mit der Baba nicht alleine ist. Wie er werden viele Angehörige versuchen, jetzt beim Prozess in Kecskemét dabei zu sein und Antworten zu bekommen.

Wer steht in dem Prozess vor Gericht?

Polizisten haben am Mittwochmorgen die Angeklagten in den Gerichtssaal in Kecskemet geführt. Elf Männer sind angeklagt, zehn Bulgaren und ein Afghane. Einer der Bulgaren ist flüchtig, die restlichen Tatverdächtigen saßen seit ihrer Festnahme in Ungarn in Untersuchungshaft. Sie alle sollen zu dem Schleppernetzwerk gehören, das auch für den tödlichen Transport nach Österreich verantwortlich war. Vier von ihnen sollen direkt an der betreffenden Fahrt beteiligt gewesen sein:

  • Der Afghane Samsoor L., 30 Jahre alt, wird als Kopf der Schlepperbande betrachtet und soll in einem der Begleit-Pkw Ausschau nach Polizeistreifen gehalten haben.
  • Metodi G., ebenfalls 30, soll seine rechte Hand gewesen sein. Auch er soll in einem Begleitfahrzeug dabei gewesen sein.
  • Genauso Todorov B., 39.
  • Ivajlo S. soll den Kühllaster gesteuert haben.

Was wird den Männern vorgeworfen?

Die Staatsanwaltschaft legt den Schleppern insgesamt 31 illegale Transporte zur Last, sowie die Gründung eines kriminellen Netzwerks. Zwischen Februar und August 2015 sollen sie 1200 Menschen über Ungarn nach Österreich geschmuggelt und dabei mindestens 300 000 Euro verdient haben. Immer wieder seien Flüchtlinge in Laderäumen von Lkws zusammengedrängt worden. Nicht selten seien sie dem Tod nur knapp entronnen.

26 Anklagepunkte werden verhandelt, Anklagepunkt 25 bezieht sich auf den Transport, der in der Pannenbucht nahe Parndorf endete. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die vier beteiligten Männer den Tod der Menschen im Laderaum wissentlich in Kauf nahmen - deshalb wird ihnen zusätzlich Mord vorgeworfen.

Bewahrheitet sich der Mordvorwurf, kann in Ungarn eine lebenslange Haftstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verhängt werden.

Den Tod in Kauf genommen

Wie sind die Aussichten, dass ihnen die Taten nachgewiesen werden können?

Schon jetzt ist klar, dass sich das Verfahren ziehen wird. Bis Ende des Jahres soll verhandelt werden. Das Ermittlungsmaterial umfasst 59 000 Seiten, 15 Sachverständige sollen gehört werden. Zehn Dolmetscher müssen zwischen Ungarisch und Paschtu sowie Bulgarisch übersetzen. Bereits zu Beginn der Verhandlung gibt es deshalb eine lange Diskussion: Der afghanische Hauptangeklagte beschwert sich mehrfach über die angeblich mangelnden Sprachkenntnisse der Gerichtsdolmetscherin, die für ihn ins Paschtu übersetzt. Die Dolmetscherin verwehrt sich gegen die Vorwürfe.

Zugleich sind sieben Zeugen geladen. Die Staatsanwaltschaft dürfte die Anklage vor allem auf die abgehörten Telefongespräche zwischen den Bandenmitgliedern stützen. Daraus lassen sich erdrückende Beweise für die Mordanklage ableiten. Der Fahrer des Kühlwagens hatte demnach mehrmals darauf hingewiesen, dass die Flüchtlinge im Laderaum schreien und an die Wände klopfen würden. Daraufhin soll der afghanische Bandenführer die Weisung gegeben haben weiterzufahren."Und falls sie sterben sollten, soll er sie dann in Deutschland im Wald abladen."

Warum findet der Prozess in Ungarn statt?

Österreich hat den Fall an Ungarn abgetreten, weil die Opfer den Gerichtsmedizinern zufolge bereits auf ungarischem Gebiet gestorben waren. Außerdem wurden die meisten Tatverdächtigen in Ungarn verhaftet. Ihr Operationsgebiet war Südungarn, das Grenzgebiet zu Serbien. Kecskemét, 100 Kilometer südlich von Budapest, ist eines der Zentren dieser Region. Den Kühllaster, in dem die 71 Flüchtlinge ums Leben kamen, hatten die Schlepper bei einem dortigen Gebrauchtwagenhändler gekauft. Ihr Logistiker, ein Bulgare mit libanesischem Hintergrund, hatte in einem Grünviertel der Stadt eine Wohnung gemietet.

Warum hat die ungarische Polizei nicht früher eingegriffen?

Diese unangenehme Frage müssen sich die Behörden spätestens gefallen lassen, seit bekannt ist, dass sie die Bande überwacht haben. Seit dem 13. August hatten ungarische Ermittler die Telefongespräche der Schlepper abgehört. Wenige Tage vor der Todesfahrt kostete dann ein Transport beinahe Menschenleben: 81 Flüchtlinge an Bord eines Lkw überlebten wohl nur, weil es ihnen gelang, ein Loch in die Decke zu rammen. Auch hier hatte die Polizei mitgehört - trotzdem griff niemand ein.

Der Sprecher der zuständigen Staatsanwaltschaft sagte der SZ, die Gespräche seien nicht live verfolgt worden, da die Fahrten in den frühen Morgenstunden stattgefunden hätten und es technisch ohnehin nicht möglich gewesen sei, die vielen Dialoge in unterschiedlichen Sprachen mitzuhören. Zudem hätten die Mitschnitte erst übersetzt und ausgewertet werden müssen. Wann dies geschah, ist bislang nicht bekannt.

Mit Material der dpa.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: