Süddeutsche Zeitung

Wie die heimische Fauna durch den Winter kommt:Hirsche auf Tuchfühlung

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Im Rotwild-Gehege auf der Reiser-Alm am Brauneck sind die imposanten Wildtiere ganz zahm. Alois Oswald hilft ihnen.

Von Sabine Näher, Lenggries

Mit "Hirschkuss" verbindet man hier in der Region zwar so einiges, aber dass einer in Abwandlung des Spruches "Ich glaub', mich knutscht ein Elch!" tatsächlich mit dem imposanten Geweihträger auf Tuchfühlung geht, das hat wohl noch keiner erlebt. Es sei denn, er hat einmal zur Winterzeit der Reiser-Alm am Brauneck einen Besuch abgestattet und genau den Moment erwischt, in dem Alois Oswald ins Hirsch-Gehege steigt. Sofort umringen ihn Hirsche und Hirschkühe ungestüm, denn sie wissen, dieser Mann kommt nie ohne nahrhafte Mitbringsel. "Über das Futter kann man die Tiere an sich gewöhnen", erklärt der Hüttenwirt der Reiser-Alm. "Man braucht dazu aber viel Ruhe - und Geduld. Bei manchen Tieren kann das schon zwei Jahre dauern, bis sie Vertrauen gefasst haben."

Die zwei Hirsche und zwei weiblichen Tiere, die derzeit im Gehege leben, sind aber alle hier geboren und kennen Oswald von klein auf. Daher zeigen sie keinerlei Scheu und nehmen das Futter direkt aus seinen Händen. Und legt er sich eine Kastanie zwischen die Lippen, dann "küsst" sich der Hirsch die besondere Leckerei direkt von dort weg. Für den Zuschauer ist nicht unbedingt ersichtlich, wer von beiden dabei mehr Mut aufbringen muss: Das Wildtier bei dieser ungewöhnlichen Annäherung - oder doch der Mensch, wenn sich so ein imposantes Zwölfender-Geweih dem Gesicht nähert. Es sieht aber fast so aus, als hätten beide daran Vergnügen.

Die Besucher der Alm beobachten die Fütterung üblicherweise von deren höher gelegener Terrasse aus. Wer aber ausnahmsweise ins Gehege darf und den Futtereimer trägt, wird sofort gnadenlos bestürmt. Allerdings, und das hätte man so nun nicht erwartet, nur von den Hirschkühen. Die männlichen Tiere halten hingegen zu den Fremden einen gewissen Abstand und gehen einer zu nahen Begegnung mit sehr eleganten hohen Sprüngen durch den tiefen Schnee vorsichtshalber aus dem Weg.

Gefüttert werden die Tiere je nach Wetterlage etwa von Mitte November bis um Ostern herum. Sie bekommen Heu und Silage, Brot, Maiskolben und Kastanien. Sobald die Natur genügend frische Nahrung zur Verfügung stellt, wird wieder auf Selbstverpflegung umgestellt. In dem 15 000 Quadratmeter großen Areal werden bis zu zehn Tiere problemlos satt; werden es einmal mehr, muss man auch im Sommer zufüttern. Doch das geschieht selten, denn es werden regelmäßig Tiere geschossen, deren Fleisch vermarktet wird. Oswald betreibt das Gehege gemeinsam mit einem Kompagnon. Dieser bezahlt im Winter das Futter und erhält dafür den Ertrag aus dem Fleischverkauf. "Wenn Tiere rausgeschossen werden, bin ich grundsätzlich nicht dabei, damit sie diese Situation nicht mit mir verbinden und ihr Zutrauen nicht verlieren", erzählt der Hüttenwirt. Alle seine Tiere haben einen Namen. Und, da machen sie keinen Unterschied zu anderen Zeitgenossen: Der eine kommt, wenn man ihn ruft, der andere nicht. Einer der beiden Hirsche ist merklich scheuer als sein Kollege und hält deutlichen Abstand zu den fremden Besuchern. "Er ist der Zurückhaltendere", erklärt Oswald. "Aber nicht in der Brunft: Da zeigt er allen, wo's lang geht". In dieser Zeit im Herbst müssen die Gegner, die sonst friedlich zusammenleben, schon einmal getrennt werden. Und dann könnte es auch für den vertrauten Menschen gefährlich werden. Doch Oswald geht es mit Vorsicht an: Ihm ist in den zehn Jahren, in denen er mit den Tieren lebt, noch nie etwas geschehen. Aber ein Spießer, also ein einjähriger Hirsch, ist in der Brunftzeit schon einmal von einem aufgebrachten Rivalen mit der Geweihspitze angebohrt worden.

Die im Frühjahr abgeworfenen Geweihstangen sammelt Oswald ein und verkauft sie an Liebhaber. Den Preis berechnet er dabei nach dem Gewicht: Ein Kilo Hirschgeweih gibt es für etwa 25 Euro. Da ein anständiges Geweih zwölf bis 14 Kilo auf die Waage bringen kann, können dafür schon mal 350 Euro fällig werden. Doch wie schön, wenn dafür einfach der nachwachsende Rohstoff genutzt wird, den das Tier nicht mehr braucht - und dieses dafür nicht sein Leben lassen muss.

Für ein solches Rotwildgehege braucht es natürlich eine amtliche Genehmigung durch das Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Die Größe muss ausreichend sein, eine Suhle sowie Frischwasser sind ebenfalls Voraussetzung. An der Reiser-Alm dient eine kleine Quelle als zuverlässiger Frischwasserlieferant. Wenn sich seine Tiere alle zur Suhle begeben, weiß Oswald, dass es in zwei Tagen schneien wird. Einen solchen Wetter-Hirschen kann sich nun wirklich nicht jeder halten.

Wie weit die Menschen heutzutage übrigens schon von der Natur entfernt sind, schockiert Alois Oswald immer wieder. Für Rentiere, sogar für Lamas ist sein Rotwild schon gehalten worden. Und wenn jemand von "den Rehen" spricht, weist der Hüttenwirt dezent darauf hin, dass Rehwild, also Rehböcke und Rehgeißen, gar nicht im Gehege gehalten werden könnten, weil die Böcke, ganz anders als seine sanftmütigen Hirsche, viel zu aggressiv wären. Im vorigen Sommer hat ihn der Besuch einer Gymnasialklasse allerdings wirklich aus der Fassung gebracht. Deren Lehrerin rief den Kindern tatsächlich zu: "Schaut mal, da steht ein Elch!"

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SZ vom 23.12.2017
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