Süddeutsche Zeitung

Nachtleben:Penzberger Jukebox

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Bei der sogenannten "KultUhrnacht" trifft in der ehemaligen Bergarbeiterstadt ein buntes Potpourri an Stilen und Spielorten auf ein begeistertes Publikum

Von Arnold Zimprich, Penzberg

19.51 Uhr, Bahnhof Penzberg. Die Türen des Regionalexpress' von München Richtung Kochel schließen sich. Ob auch Musikliebhaber aus der Hauptstadt den Weg ins Oberland gefunden haben? Zumindest steuern einige Fahrgäste zielstrebig auf Aris Taverna zu, wo das Duo Marketa & Caro, das das Publikum später mit "Country & More" beglücken wird, noch mit den Vorbereitungen für seinen Auftritt beschäftigt ist. Aber man muss sich ja sowieso erst eine Eintrittskarte holen.

20.15 Uhr, Stadtplatz. Eine lange Schlange hat sich an der Bahnhofstraße vor dem Ticketverkaufsstand gebildet. Familien, Teenager, Rentnerpaare - die Penzberger "KultUhrnacht" lockt Jung und Alt in die Lokale der früheren Bergbaustadt. Das Verkaufsteam hat seine liebe Mühe, der Nachfrage nachzukommen. Nur langsam wird die Schlange kürzer. Endlich ist das Eintrittsarmband angelegt.

20.37 Uhr, Stadtbücherei. Willi Sommerwerk ist in seinem Element. Der Geretsrieder Liedermacher nimmt seine Zuhörer mit auf eine anekdotenreiche Reise durch 70 Jahre Bundesrepublik und spannt ein Panoptikum an historischen und musikalischen Fundstücken auf, das die an diesem Abend etwas steril wirkende Bibliothek in ein Bildungswerk verwandelt. "1956 war der Ungarnaufstand. Bertolt Brecht starb in Ostberlin", zählt er auf. "Autos mussten mit Rückspiegeln ausgestattet werden. Der Österreicher Franz Eugen Helmuth Manfred Nidl-Petz, besser bekannt als Freddy Quinn, trat beim Grand Prix Eurovision de la Chanson für Deutschland an." Sagt's und stimmt Quinns "So schön war die Zeit" an.

21.15 Uhr, Buchhandlung Rolles. Sylvia "Sylv" Richard-Färber, die Sängerin der Chihuahua Blues Company, singt das Stück "Never Stop Dreaming". Die kleine Schweizerin holt Erstaunliches aus ihrer Stimme heraus. Irgendwo zwischen Les Rita Mitsouko und PJ Harvey setzt das Quintett eine Unmenge Energie frei, Richard-Färbers Stimme turnt mit Elan die Tonleiter hinauf und hinunter, überschlägt sich, verharrt nicht lange, ehe sie wieder die Gegenrichtung einschlägt. Mit der Mundharmonika wird das Schicksal eines Baumes balladesk in Szene gesetzt. Es soll ihm nach Willen der Mächtigen an den Kragen gehen, doch der "singende Baum" lässt sich nicht unterkriegen, treibt immer wieder aus, "der Baum steht immer noch". Die Chihuahua Blues Company wird von Liedermacher Wolfgang Weise abgewechselt, der darüber sinniert, was er mit seiner rauen Stimme am besten anfangen sollte. "Genau das, was er jetzt macht!", denkt man sich, als Weise Johnny Cashs "Folsom Prison Blues" und Joe Cockers "Unchain my Heart" anstimmt.

21.50 Uhr, Aris Taverna. Schade, um Marketa & Caro zu sehen, müsste man ihren Auftritt mutwillig stören und sich durch die Menschen quetschen, die sich dicht an dicht in die engen Gänge der Gaststätte drängen. So bleibt nur ein Eck direkt am Eingang frei, wo man den beschwingten Tönen der beiden Frauen und Caros "Tin Whistle" lauscht.

22.20 Uhr, Campendonk Museum. Das Trio Nautico stimmt bei Rotwein feine Jazz- und Bossanova-Töne an. Zu einem Glas Rotwein, Erdnüssen oder Bier wippt das Publikum bei "Schau mich bitte nicht so an" im Takt. Die Bardame im Foyer des Museums kommt mit dem Aufnehmen der Bestellungen kaum hinterher.

22.45 Uhr, Radweg zwischen Seeshaupter Straße und Nonnenwaldstadion. Man entschließt sich, ein wenig Frischluft zu schnappen und den Weg vom Campendonk Museum zum Jugendzentrum, wo bald Roadstring Army aus Ulm auftreten müssten, zu Fuß zurückzulegen. Beim Gang durch den finsteren Wald lässt man die Hochkultur im Museum zurück und tritt ein in die Subkultur des Jugendzentrums, wo die vier Jungs der Roadstring Army noch mit dem Soundcheck beschäftigt sind. Es dauert nicht lange und das Quintett bedankt sich beim Publikum für die Geduld, schmettert den rund 50 Zuhörern sein "Superficially Alright" entgegen. Sänger und Gitarrist Sebastian Seliger gibt die Rampensau. Er schnappt sich das Mikro und läuft ins Publikum, bedient zwischendurch virtuos sein kleines Holzsaxofon und verwandelt das Jugendzentrum in eine kochende Rockbühne.

23.35 Uhr, Empfangspavillon der Firma Roche. Es finden sich nur noch wenige Parklücken, die Schlange vor dem Eingang lässt auf eine lange Wartezeit schließen, die Security verweigert den rund zwanzig im Freien stehenden Personen mit grimmigem Blick den Zutritt. Drinnen stimmen Spiders'n'Snakes soeben Anastacias "I'm outta Love" an. Passt irgendwie. Schön war es trotzdem mit dir, Penzberger KultUhrnacht. Bis zum nächsten Jahr!

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Quelle:
SZ vom 28.10.2019
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