Süddeutsche Zeitung

Nach der Corona-Pause:Gemeinsam Aufatmen

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Andrea Fessmann und ihr Iffeldorfer "Klangkunst-Chor" dürfen offiziell wieder zusammen singen. Vorerst finden jedoch alle Proben und Konzerte unter freiem Himmel statt.

Von Paul Schäufele, Iffeldorf

Normalerweise haben Chöre keine Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen. In Zeiten der Pandemie ist das anders. Wochenlang war es Chören nicht gestattet, Proben abzuhalten. Selbst als andere Ensemble-Formationen schon wieder gemeinsam musizieren durften, waren die Sängerinnen und Sänger davon ausgenommen. Nun darf wieder zusammen gesungen werden. "Endlich ist wieder Beziehung möglich", freut sich Andrea Fessmann. "Hörend und sehend, im Chor untereinander, zur Dirigentin, zum Publikum. Wie schön!"

Der Chorsänger ist ein geselliges Wesen. Den Ausfall gemeinsamer Proben empfanden deshalb viele als besonders belastend. Fessmann, die unter anderem den Iffeldorfer Klangkunst-Chor leitet, hat daher früh begonnen, nach Ersatzmöglichkeiten zu suchen. "Alles ist besser, als nicht zu proben", sagt sie. Schon kurz nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen hat sie Video-Konferenzen einberufen, um die sängerischen Aktivitäten nicht ganz einschlafen zu lassen. "Man war froh, sich überhaupt zu sehen." Mit einem recht aufwendigen Verfahren von Vorsingen, Nachsingen und einzelnem Überprüfen des Klanges hat die Gesangspädagogin ihr Bestes gegeben, um die Sängerinnen und Sänger in Form zu halten.

Ein Nebenprodukt der Online-Arbeit war ein digitales "Offenes Singen", zu dem auch Nicht-Chorsänger eingeladen waren. Manch einer sei über dieses Format zum Interesse am regelmäßigen Chorsingen gekommen, freut sich Fessmann. Doch ist klar, dass die digitale Probenqualität nicht mit derjenigen in Präsenz verglichen werden kann. Selbst bei stabilster Internet-Verbindung und bester Bild- und Ton-Übertragung sind solche Übungen auf Distanz nur eine Imitation echter musikalischer Arbeit. Und schließlich geht es beim Chorsingen nicht nur um die Musik.

Die gefährliche Kombination aus tiefem Atmen und sozialem Beisammensein hat dieses augenscheinlich so unschuldige Hobby zum Albtraum zahlreicher Freizeit-Virologen gemacht. Die Fälle infizierter Chöre in Berlin, Amsterdam und dem US-amerikanischen Bundesstaat Washington haben das Ihre dazu beigetragen. Doch so einleuchtend die Zuordnung von Gruppen-Singen und Gruppen-Infektion scheint, die Wissenschaft hält sich mit einer so einfachen Verknüpfung zurück. Neuere Studien haben das Thema nun aufgegriffen und die Entwicklung des Aerosols, der feinen Tröpfchen in der Atemluft, bei Laien-Vokalisten sichtbar gemacht.

In einer Untersuchung des Wiener Mediziners Fritz Sterz wurde den Testpersonen eine Kochsalzlösung in die Nasenöffnungen verabreicht. Bei entsprechender Ausleuchtung in einem schwarz ausgekleideten Raum konnte so deutlich gemacht werden, dass die Höchstwerte der Aerosol-Ausdehnung einen Radius von eineinhalb Metern nicht überschreiten. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch die Forscher des Freiburger Instituts für Musikermedizin, die einen Abstand von zwei Metern zwischen den Sängern empfehlen. Zu einem Mindestabstand von eineinhalb Metern kommen Forscher des Instituts für Strömungsmechanik und Aerodynamik der Universität der Bundeswehr München. Eine Studie des Mediziners Matthias Echternach vom Münchner LMU-Klinikum mit ähnlichen Erkenntniszielen ist noch nicht abgeschlossen.

Angesichts dieser Datenlage hat eine Maßnahme für Irritation gesorgt: Seit dem 8. Juni durften Laienmusiker unter strengen Auflagen wieder im Ensemble musizieren - Chöre explizit ausgenommen. In einem Brandbrief hatten die vier bayerischen Chorverbände in Vertretung von etwa 90 000 Sängerinnen und Sängern ihre Enttäuschung über diese Regelung ausgedrückt. Auch Andrea Fessmann hatte wenig Verständnis. "Als das bekanntgegeben wurde, bin ich auf die Barrikaden gegangen, denn wenn die Bestimmungen absurd werden, muss man sich rühren." Zahlreiche E-Mails hat sie geschrieben und Briefe, Telefonate geführt; eine Demonstration, die sie auf dem Münchner Königsplatz plante, wurde nicht genehmigt. Das bayernweite Engagement hat sich gelohnt. Seit dieser Woche ist es Laienchören wieder gestattet, mit dem Mindestabstand von zwei Metern zu proben. Ein detailliertes Hygienekonzept ist noch in Arbeit.

Für die Chöre ist das ein positives Signal, auch wenn mit einem regulären Probenablauf noch nicht zu rechnen ist. Der Iffeldorfer Chor wird wohl trotz allem zunächst noch unter freiem Himmel singen, die Sänger fühlten sich so sicherer. Große Werke sind auf diese Weise allerdings kaum einzustudieren. Für Oktober war in Iffeldorf Beethovens Neunte geplant, ob das stattfinden kann, ist unsicher. "Wahrscheinlich wird es erst mit dem Impfstoff wieder normale Proben geben", meint Fessmann. Doch immerhin gibt es Lichtblicke. Konzerte wie das des Klangkunst-Chores am Sonntag, 5. Juli, im Maierhof des Klosters Benediktbeuern halten die Erinnerung wach, dass es immer noch Live-Musik gibt, wenn auch in kleinerem Rahmen.

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SZ vom 24.06.2020
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