Süddeutsche Zeitung

Interview:"Es geht um Selbstbestimmung"

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Dieter Käufer hat das AWO-Demenz-Zentrum in Wolfratshausen zu einer maßstabsetzenden Einrichtung entwickelt. Jetzt verabschiedet er sich als Leiter und erklärt noch einmal das Konzept

Von Wolfgang Schäl, Wolfratshausen

Bei einer Feier anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Arbeiterwohlfahrt hat sich Dieter Käufer, der 18 Jahre lang das AWO-Zentrum am Paradiesweg in Wolfratshausen geleitet hat, in den Ruhestand verabschiedet. Die Einrichtung hat in der Betreuung von Demenzpatienten, die hier Bewohner heißen, überregional Maßstäbe gesetzt. Die SZ sprach mit ihm über Konzepte, persönliche Ansichten und Pläne.

SZ: Herr Käufer, aus medizinischer Sicht gilt das Alter als Hauptrisikofaktor für eine demenzielle Erkrankung. Haben Sie eigentlich selbst Lust, 90 Jahre alt zu werden?

Dieter Käufer: Natürlich geht mit dem fortschreitenden Alter nicht nur ein körperlicher, sondern auch ein geistiger Abbauprozess einher. Wenn ich es mir persönlich aussuchen dürfte, würde ich am liebsten am Gardasee in einem Sessel sitzend einschlafen und nicht mehr aufwachen, gern auch vor dem 90. Geburtstag.

Kann man mit Demenz glücklich sein?

Ja, das geht gut. Denn mit der Krankheit verlieren die Menschen ihre Vergangenheit und auch die Lust auf Zukunft. Gesunde beziehen ihre Glücksgefühle ja aus Erinnerungen und Zukunftswünschen. Wenn beides nicht mehr möglich ist, dann lebt man im Hier und Jetzt. Und das hat mit Glücklichsein zu tun. Der Arzt und Psychotherapeut Jan Wojnar hat diesen Teil des Lebens in seinem Buch "Die Welt der Demenzkranken" als "Phase der Champagnertrüffel" bezeichnet - wenn ich nur den Geschmack spüre, geht's mir gut. Leider ist dieses Stadium für die Angehörigen das Schlimmste. Sie werden dann von einem ihnen nahe stehenden Menschen nicht mehr erkannt. Es ist die Phase, in der man einen Menschen verliert. Es ist auch der Punkt, an dem Partner sagen: Jetzt geht es nicht mehr. Das ist deprimierend und oft auch mit Schuldgefühlen verbunden.

Das Wolfratshauser Demenz-Zentrum ist in der Fachwelt mit Ehrungen und Auszeichnungen bedacht worden, unter anderem von der fachübergreifenden Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen und von der Rudi-Assauer-Stiftung. Wie ist es zu seinem Konzept gekommen?

Es waren 18 tolle Jahre, auf die ich ehrlich gesagt auch stolz bin. Als wir uns entschlossen haben, uns ausschließlich auf die Betreuung von dementen Menschen zu beschränken, gab es diesen Ansatz in ganz Deutschland in nur zwei Einrichtungen. Die eine davon waren wir in Wolfratshausen. Grundlage des Entschlusses war die Erfahrung, dass Menschen mit körperlichen Gebrechen und solche mit geistiger Behinderung aufgrund ihrer unterschiedlichen Einschränkungen schwierig zusammenleben können; aufgrund der divergierenden Bedürfnislagen kam es immer wieder zu Komplikationen. Wir waren damals ein klassisches Altenheim und haben uns die Frage gestellt: Warum nicht ein Haus für ausschließlich Demenzielle betreiben?

Ihr Konzept hat mit dem "Vier-Säulen-Prinzip" Modellcharakter. Wie lässt sich das erklären?

Wir haben das Konzept in mehreren Entwicklungsschritten über Jahre hinweg immer wieder verändert, wir mussten da sehr innovativ sein. Vereinfacht gesagt: Es besteht aus den Elementen Licht und Farbe, Alltag und Leben, Bewegung und als letzter Baustein "Ethische Entscheidungsfindung".

Was kann man sich unter Letzterem vorstellen?

Wir vollziehen damit einen Perspektivenwechsel und stellen die Frage: Was wünscht sich der Kranke? Das geht nicht immer konform mit den Wünschen der Angehörigen, es handelt sich mitunter um sensible, persönliche Geschichten mit Konfliktpotenzial, die wir immer im Einzelfall betrachten und beraten. Da kann es beispielsweise auch um sexuelle Bedürfnisse und Auffälligkeiten gehen, um Freundschafts- und Liebesbeziehungen zwischen unseren Bewohnern. Für Kinder oder Ehepartner, die sich für den Patienten aufgeopfert haben, kann dies außerordentlich schmerzhaft sein - dein Mann oder deine Frau erkennt dich nicht mehr und wendet sich einem ganz anderen, fremden Menschen zu. Deshalb diskutieren wir in unserem Ethik-Komitee im Einzelfall immer aus der Perspektive der Betroffenen, wie wir das so handhaben können, dass es für alle am besten ist. Unsere Mitarbeiter sind dafür speziell geschult. Es geht hier letztlich um Fragen der Selbstbestimmung. Das Ethik-Konzept und die Beschränkungen auf Demenzkranke war übrigens der Grund dafür, dass wir mit Preisen gewürdigt wurden.

Waren dafür bauliche Veränderungen nötig?

Ja, da gab es viel zu tun. Es war im Jahr 2004, als wir damit angefangen haben, zwei Jahre waren wir mit Sanierungsarbeiten beschäftigt, um schädliche Stoffe wie Asbest zu entfernen. Wir haben das Haus dann mit einem besonderen Licht- und Farbkonzept ausgestattet, in dem sich die Bewohner wohlfühlen konnten. Eine ganz wichtige Hilfe dabei war das Gerontologie-Zentrum, das damals in der "Schnecke" in der Tölzer Flintkaserne angesiedelt war. Wichtigster Partner und Ideengeber dort war Professor Herbert Plischke, der den einzigen Lehrstuhl für "Licht und Gesundheit" innehatte.

Umfangreiche bauliche Veränderungen sind ja demnächst wieder angesagt, nachdem die gesetzlichen Vorschriften verschärft wurden. Die Bewohner, die jetzt überwiegend in Zweibettzimmern untergebracht sind, sollen jeweils eigene Räume und mehr Platz bekommen, was im derzeit bestehenden Gebäude nicht umzusetzen ist. Seit 2015 gibt es Pläne, den Altbau abzureißen und das Haus im jetzigen Garten neu zu errichten, der dann in den hinteren Teil des Grundstücks verlegt werden müsste. Wie ist der aktuelle Entwicklungsstand?

Wir haben uns mittlerweile entschlossen, das Zentrum an ganz anderer Stelle komplett neu zu errichten und stehen in Verhandlungen mit der Stadt, die daran interessiert ist, die Einrichtung hier zu behalten. So sind jedenfalls die Signale aus dem Rathaus. Auch wir wollen auf jeden Fall in Wolfratshausen bleiben. Wegen der laufenden Verhandlungen kann ich leider nicht sagen, welches Grundstück für den Plan, der bis 2024 umgesetzt sein sollte, ins Auge gefasst wird. Die Fläche muss auch groß genug sein, damit wir unsere Tiere, darunter zwei Esel, zwei Ziegen, Katzen, Hunde und Enten, unterbringen können. Ein neues Gebäude kann maximal zwei Stockwerke haben, andernfalls wird es zu unübersichtlich für die Bewohner, die dadurch Ängste entwickeln. Ein Gespräch mit Bürgermeister Klaus Heilinglechner steht demnächst an, das Projekt sollte möglichst zügig umgesetzt werden. Wir müssen bald in die Pötte kommen, zumal die Kreisbehörde als Heimaufsicht wegen der gesetzlichen Vorgaben ja auch Druck macht.

Vorsitzender der Alzheimer-Gesellschaft Isar-Loisach bleiben Sie weiter. Was ist deren konkrete Zielsetzung?

Wir haben zwei Arbeitsschwerpunkte: Erstens die Beratung von Betroffenen, denen wir helfen wollen, mit der Schockdiagnose Alzheimer fertig zu werden. Oft sind das ja Menschen, die noch mitten im Berufsleben stehen. Zweitens geht es darum, in Zusammenarbeit mit dem Landratsamt Angehörige für den Umgang mit Erkrankten zu schulen. Acht solcher Schulungen, die bis zu drei Stunden dauern, haben wir heuer schon durchgeführt, außerdem rund 70 Beratungsgespräche. Für diese Aufgaben suchen wir derzeit noch passende Räumlichkeiten. Denkbar wäre eine Bürogemeinschaft mit dem Verein "Bürger für Bürger".

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Quelle:
SZ vom 11.10.2019
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