Süddeutsche Zeitung

Nachkriegsbauwerk:Aufsehenerregende Wabenform

Lesezeit: 2 min

Eine Ausstellung im Münchner Architekturmuseum würdigt die Versöhnungskirche in Geretsried, die Franz Lichtblau 1970 errichtet hat.

Von Kaija Voss, Geretsried

Die Geretsrieder Versöhnungskirche ist derzeit Teil einer Ausstellung des Architekturmuseums der Technischen Universität München (TUM) in der Münchner Pinakothek der Moderne. Der Fokus der vom Museumsteam unter Leitung von Andres Lepik konzipierten Ausstellung liegt auf den Neuzugängen der letzten zehn Jahre. Dass eine Kirche aus Geretsried eine der "Neuen Nachbar*innen" ist und sogar den Umschlag des begleitenden Kataloges ziert, überrascht - vielleicht aber auch nicht. Denn die Kirche wurde vom großartigen bayerischen Kirchenbauer Franz Lichtblau und seinem Projektpartner Ludwig N. J. Bauer geplant. Die Versöhnungskirche ist nicht nur im Archiv, sondern auch sonst in guter Nachbarschaft: Franz Lichtblau, der in Bad Tölz geboren wurde, schuf in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele prägende evangelische Kirchen in Bayern, darunter die evangelische Auferstehungskirche in Oberaudorf (1956) und die Michaelskapelle in Dietramszell (1961).

Die außergewöhnliche Architektur der Versöhnungskirche ist in das Ausstellungskapitel "Sakralbauten nach 1945" eingeordnet, einer Zeit, in der Kirchenbauten an der Tagesordnung standen. In Geretsried entstanden damals zunächst Bunkerkirchen oder Notkirchen für die sehr junge Gemeinde, später architektonische Neuschöpfungen. 1960 wurde zuerst die Petruskirche erbaut, Architekt war ebenfalls Franz Lichtblau. Ein Zelt aus Beton mit freistehendem Glockenturm und großzügig verglastem Eingangsgiebel. Drei Jahre später gab es bereits 1400 evangelische Gemeindemitglieder in Geretsried, Tendenz steigend. Der Wunsch nach einem eigenen Raum im Süden der Stadt wurde laut, bisher war die Gemeinde im Pfarrhaus der katholischen Maria-Hilf-Kirche untergekommen. Zehn Jahre nach Eröffnung der Petruskirche wurde ein zweiter aufsehenerregender Bau geweiht, die Versöhnungskirche.

Im Katalog des Architekturmuseums der TUM ist zu erfahren: "Mit der Geretsrieder Versöhnungskirche starteten die Architekten Franz Lichtblau und Ludwig N.J. Bauer den Versuch, aus einem wabenförmigen Aluminium-Skelettbausystem (ALCO-Trelement) stützenfreie, sechseckige und beliebig hohe Räume zu entwerfen." Jede Wabe umfasst eine Fläche von 25 Quadratmetern. Auch der überhöhte Altarraum ist in einer der Waben untergebracht. Geschmückt wird er von einem Wandbild von Hubert Distler zum Thema "Versöhnung". Das variable Bausystem, eine Art "Baukasten für den Architekten" ermöglichte eine große Flexibilität bei der Grundrissgestaltung, kurze Bauzeiten und damit die Reduzierung der Baukosten. Ein geometrisches Grundprinzip hatte Lichtblau bereits 1965 für den Entwurf der so genannten "Siebeneckkirche" in Übersee am Chiemsee angewandt. Die Versöhnungskirche ist komplett mit Schindeln aus Zedernholz verkleidet. Damit wird das moderne Bausystem äußerlich an schindelgedeckte Bauten im Alpenraum angepasst. Die Fassade spielt mit Erinnerungen an Holzkirchen in Skandinavien oder im Riesengebirge. Das 1978 daneben errichtete Wohnhaus bekleiden ebenfalls Holzschindeln, so bilden Haus und Kirche eine markante gestalterische Einheit.

Heute stellt sich die Situation der Evangelischen Kirche anders dar als vor 50 Jahren. Einerseits sind Kirchen unabdingbar die Mittelpunkte christlich-religiösen Lebens, andererseits schrumpfen viele Gemeinden. Einnahmen werden weniger, Instandhaltungskosten bleiben. Kirchen müssen profaniert oder verkauft werden, mit ungewissem Ausgang, was die Erhaltung des Bauwerks anbelangt.

Die Veränderungen werden wohl auch vor dem Geretsrieder Gotteshaus nicht halt machen. Das weiß auch Pfarrer Georg Bücheler, der selbst im Wohnhaus neben der Versöhnungskirche wohnt. "Der aktuelle Stand ist derzeit noch völlig ungeklärt, wir wissen nur, dass die Kirchengemeinde die Versöhnungskirche mittelfristig aufgibt", sagt er. "Wann genau das sein wird und in welchem Rahmen, ist vom Kirchenvorstand noch nicht beschlossen." Er selbst fühlt sich "in dieser ,Arbeitskirche' mit ihrer Wabenform sehr wohl", wie er sagt und hält darin gerne Gottesdienste, Taufen, Konfirmandenunterricht und bisweilen auch Schulunterricht. "Der Kontakt zu den Menschen entsteht sehr schnell, einfach aufgrund der besonderen fast ,intimen' Bauform und Atmosphäre." Wie es mit der Kirche vor Ort in Zukunft ganz genau weitergeht, werde aber erst ein klärendes Gespräch mit der Landeskirche ergeben, so Bücheler.

Kirchenbauten formen die Identität einer Stadt. Gerade in der Nachkriegszeit wurde oft mit spektakulären Konstruktionen und neue Materialien experimentiert. Unter dem Titel "Neue Nachbar*innen. Einblicke ins Archiv" sind Modell und Architekturfotos der architektonisch wegweisenden Kirche noch bis Sonntag, 5. Juni, in der Ausstellung des Architekturmuseums der TUM zu sehen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5593949
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.