Süddeutsche Zeitung

Geretsried:Fit für den Alltag

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Sie leben seit Jahren hier, sprechen aber kaum ein Wort Deutsch. Brigitte Graf hilft Frauen, sich im Leben besser zurecht zu finden. Die frühere Programmiererin gibt im Türkisch-Islamischen Zentrum Sprachkurse und lernt dabei auch selbst viel.

Petra Schneider

Die Schultafel ist eng beschrieben mit Sätzen wie, "Welchen Beruf haben Sie? Ich bin Hebamme." Oder, "Ich bin Hausfrau, weil ich fünf Kinder habe." Türkische Frauen mit und ohne Kopftuch sitzen auf Holzbänken, haben die Hefte aufgeschlagen und hören aufmerksam zu. Jeden Mittwochabend kommen sie zwei Stunden lang zum Deutschkurs in das türkisch-islamische Zentrum an der Geretsrieder Elbestraße, das Anfang vergangenen Jahres eröffnet wurde. Sie wollen das lernen, was ihre Männer und Kinder meist schon können: Sich in der Sprache eines Landes verständigen, in dem sie seit vielen Jahren leben. "Es kommen Frauen, die seit zehn, fünfzehn Jahren hier sind und kein Wort deutsch sprechen", sagt Brigitte Graf.

Seit einigen Wochen gibt die Münsingerin Deutschkurse im Islamischen Zentrum. Mehr aus Zufall und ohne didaktische Vorkenntnisse, wie die ehemalige Programmiererin sagt. An einem Obststand in Münsing habe sie die Frau des Vereinsvorsitzenden, Osman Akkus, kennen gelernt. Diese habe sie irgendwann gefragt, ob sie nicht Deutschkurse für türkische Frauen geben wolle. "Ich hatte in Deutsch immer eine Eins", erzählt Brigitte Graf. Also hat sie zugesagt. Türkisch spricht die 71-Jährige nicht, übersetzt wird von Frau Akkus, die ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Sie hält sich lieber im Hintergrund, ebenso die Kursteilnehmerinnen, die auch nicht fotografiert werden wollen.

Etwa zehn Frauen kommen jede Woche zum Kurs, mit unterschiedlichen Vorkenntnissen. "Das klappt sehr gut", sagt Graf. Sie übt mit den Teilnehmerinnen das, was sie in ihrem Alltag brauchen. Jede Woche werde gemeinsam ein Thema festgelegt: Was sage ich, wenn ich beim Arzt bin oder in der Apotheke? Wie antworte ich, wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt? Solche Dinge würden auf Deutsch gelernt und aufgeschrieben. "Wir machen das ganz praxisorientiert", sagt Graf. Grammatik sei nicht so wichtig, "im Moment jedenfalls". Ein Stück Unabhängigkeit will sie den Frauen dadurch geben. Damit sie sich alleine im Alltag bewegen können, ohne die Hilfe ihrer Ehemänner oder Kinder.

Die würden besser Deutsch sprechen, weil sie sich in Beruf und Schule verständigen müssten, sagt Osman Akkus. Dass ihre Frauen Deutschkurse besuchen, werde von den Männern unterstützt. Denn auch für sie bedeute das eine Entlastung. "Welcher Mann geht schon gern mit zum Frauenarzt, um zu übersetzen", sagt der Vorsitzende. Kinder würden ihre Mütter mehr respektieren, wenn diese sie nicht mehr um Hilfe bei Verständigungsschwierigkeiten bitten müssten, glaubt Akkus. Sprachförderung sei ein Schlüssel zur Integration und ein wichtiges Anliegen des Islamischen Zentrums. Auch Nicht-Mitglieder seien bei den Deutschkursen willkommen.

Dass jeder Fragen stellen könne und sich niemand für Fehler schämen müsse, dass die Frauen gerne kämen, um zu lernen, das sei ihr wichtig, sagt Brigitte Graf. "Wir machen uns Kaffee und jede Teilnehmerin bringt eine Kleinigkeit zum Essen mit." Auch ihr selbst bringe der Deutschkurs neue Erfahrungen und bereite ihr Spaß. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Alter noch einmal eine so schöne Aufgabe bekomme", sagt sie. Obwohl sie anfangs durchaus Berührungsängste gehabt habe. "Ich bin ja stockkatholisch." Der Islam, diese fremde Religion, habe ihr unterschwellig Unbehagen bereitet. Das ist inzwischen verschwunden und hat sich in Interesse und auch Sympathie verwandelt. "Ich lerne sehr viel Neues über den Koran und die türkische Kultur." Und die Lehrerin gesteht, sogar großen Respekt für die Frauen zu empfinden, die ihren Männern in ein vollkommen fremdes Land gefolgt sind, hart arbeiten und dennoch bis heute nicht richtig in der neuen Gesellschaft angekommen sind, weil sie die deutsche Sprache nicht beherrschen. Die, die zu Grafs Kurs kommen, wollen das ändern. "Sie sind so fleißig und bemühen sich sehr", lobt die Lehrerin.

Viele Frauen hätten vielleicht schon früher Deutsch gelernt. Doch ihnen hat bisher einfach die Zeit und das Geld für Sprachkurse gefehlt. Im Islamischen Zentrum in Geretsried müssen sie jedenfalls nichts für den Unterricht bezahlen, Graf arbeitet ehrenamtlich. An diesem Mittwoch gibt es selbstgebackene Torte und einen Blumenstrauß für die Lehrerin - sie hat Geburtstag und die Schülerinnen wollen sich für ihr Engagement bedanken. Brigitte Graf ist gerührt und sagt. "Solange die Frauen mich brauchen, werde ich weitermachen."

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Quelle:
SZ vom 09.01.2012
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