Süddeutsche Zeitung

Echtes Leben statt Social Media:Selbstvertrauen ohne Likes

Lesezeit: 2 min

Jugendliche, Eltern und Lehrer der Realschule Geretsried lernen in einem Workshop, besser mit sozialen Medien umzugehen

Von Jana Roth, Geretsried

Zwiegespalten sind die Mädchen der achten Klasse der Realschule Geretsried bei der Frage: "Was ist wichtiger - die Haare eines Jungen oder der Charakter?" Sophie Marx hat sie im Rahmen eines viertägigen Workshops gestellt. Marx ist Referentin der gemeinnützigen Suchtberatungs- und Präventionsfachstelle Neon in Rosenheim, die an der Realschule Geretsried das einwöchige Programm #LevelUP für Suchtprävention und Gesundheitsförderung an Schulen veranstaltet hat.

Auftakt ist ein Workshop für die Lehrer mit anschließendem Elterninfoabend. Das Thema: "Schlank, sexy, muskulös: Selbstinszenierung und Selbstoptimierung bei Jugendlichen". Im Vergleich zur Schüleranzahl sind nur wenige Eltern da, überwiegend Mütter. Die Referenten Sophie Marx und Christoph Simbeck sind jung und dynamisch und treten als Vermittler zwischen den beiden Welten auf. Dass Selfies, Likes und Follower längst nicht mehr nur Thema in den Köpfen der Jugendlichen sind, zeigen die einerseits ratlosen, andererseits resoluten Reaktionen der Eltern.

Drei Stunden am Tag verbringen Jugendlich im Durchschnitt vor dem Handybildschirm. Youtube ist der Favorit, dicht gefolgt von dem multifunktionalen Messenger WhatsApp sowie Instagram und Snapchat. Facebook ist kaum noch gefragt. Das geht aus der Studie "Jugend, Information, Medien" (JIM) 2018 des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (MPFS) hervor. Hier beginnt schon der erste Konflikt zwischen Eltern und Kind. Die Jugendlichen verbringen viel Zeit an einem virtuellen Ort, den wenige Eltern kennen und verstehen. Da entsteht natürlich Unsicherheit. Wo liegt also der Reiz und die Gefahr bei den Inhalten von Youtube und Co?

Während die ältere Generation über die Social-Media-Plattformen den Kopf schüttelt, sprechen die Mädchen aus der achten Klasse der Geretsrieder Realschule ganz offen und selbstverständlich über die Inhalte, denen sie folgen. Beauty Channels sind hoch im Kurs, Prominente wie Miley Cyrus, aber auch der politisch aktiven Schauspielerin Emma Watson folgen viele. "Ich interessiere mich einfach für ihre Meinung", sagt eine der Schülerinnen.

"Es geht darum, ein Selbstbild zu entwickeln", erklärt Simbeck. "Je reifer sie werden, desto mehr wird sich an Persönlichkeiten orientiert", fügt Marx hinzu. Diese Persönlichkeiten sind heute meist Influencer auf Instagram und Youtube, deren Beliebtheit stetig wächst, wie mehrere Studien belegen. Gerade in der Pubertät hat die Suche nach dem eigenen Selbstbild eine große Bedeutung. Neben der Abgrenzung zu den Eltern und der Hinwendung zu den eigenen Peergroups ist für Jugendliche das Experimentieren mit verschiedenen Versionen ihrer selbst wichtig. Bedenklich ist aber nach Ansicht der Fachleute, wenn das Selbstbild über ein Like bei Instagram, Flammen bei Snapchat oder die Ehrung als letzte Überlebende bei Fortnite definiert wird. "Man darf das ja alles machen, aber es ist wichtig zu wissen, dass das nicht den eigenen Status definiert", sagt Simbeck. Die Fragen, "wo stehe ich in dem Ganzen, wie beeinflusst mich das, und was ist mir eigentlich wichtig?" müssten geklärt werden, so der Referent weiter. Genau deswegen fängt Neon mit den Workshops in den siebten und achten Jahrgangsstufen an, um mit Denkanstößen die Jugendlichen zu Fragen anzuregen und ihnen bei der Suche nach ihrem Selbstkonzept zu helfen, bevor sie sich in der virtuellen Welt verlieren.

Die Notwendigkeit derartiger Projekte betont auch Schulsozialarbeiterin und Sozialpädagogin Angela Heim. Als "alltägliches Brot" bezeichnet sie jene Situationen, in denen Lehrer feststellen, wie sehr ihre Schüler auf Medien fixiert sind. Selbst wenn sie das Handy aus der Hand legen, unterhalten sie sich über Themen aus den sozialen Medien. Manchmal, so Heim, könnten Kinder kaum den Unterschied zwischen realer und virtueller Welt erkennen.

Wichtig ist vor allem, dass alle an einem Strang ziehen. Eltern wird geraten, mit ihren Kindern über die Themen zu sprechen und auch klare Regeln zur Handynutzung aufzustellen. Schulen und Lehrer müssten die Themen in ihren Lehrauftrag einbinden, besonders die Aufklärung über Datenschutz und gesundheitsschädigende Auswirkungen.

Nach einigen Nachfragen von Sophie Marx wird an diesem Morgen auch den Mädchen bewusst, dass ein cooler Haarschnitt bei einem Jungen vielleicht doch nicht so wichtig ist wie Zuverlässigkeit oder Ehrlichkeit.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4660696
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 30.10.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.