Süddeutsche Zeitung

Die Friedhelm-Oriwol-Stiftung hebt einen Schatz:Die vergessene Expressionistin

Lesezeit: 3 min

Hundert Jahre lang lag das Werk der Künstlerin Charlotte von Maltzahn unbeachtet auf Dachböden. Jetzt ist es am Walchensee zu sehen

Von Stephanie Schwaderer, Urfeld

Wer war die Frau, die diese kühnen Linien zum Fließen gebracht hat? Warum rührte sie nach 1914 keinen Pinsel mehr an? Und wie konnte ihr Genie so lange unbemerkt bleiben? Charlotte von Maltzahn gibt Rätsel auf. Und begeistert: Die 1881 in Kiel geborene Tochter eines Marine-Offiziers hat eine ganz eigenwillige expressive Handschrift. Dass ihr Werk ein Jahrhundert lang unbeachtet auf Dachböden verstauben konnte, erscheint wie ein großes Versehen. Als Maltzahn 1975 in Benediktbeuern starb, eine unbekannte Frau im Alter von 92 Jahren, lagerten 180 Ölgemälde auf ihrem Speicher, die meisten nicht einmal auf Keilrahmen gespannt; dazu 120 Zeichnungen und Grafiken, manche in einem erbärmlichen Zustand. Erst jetzt, weitere 44 Jahre später, erwachen diese Bilder am Walchensee zu Leben - und strotzen vor Kraft. Ein kleines Wunder.

Maßgeblich beteiligt an diesem Wunder sind die Enkelin der Künstlerin, Almut Kreuz, und die Friedhelm-Oriwol-Stiftung in Urfeld. Kreuz, die in Schlehdorf lebt, fasste vor 20 Jahren den Entschluss, das Erbe ihres "Ömchens" ans Licht zu holen. Mit Hilfe von Freunden machte sie sich an die Sichtung des Materials und an erste Restaurierungsarbeiten. Eine Galerie in Aying stellte einige Arbeiten aus. Alle Anstrengungen jedoch, die Großmutter einem größeren Publikum bekannt zu machen, scheiterten am Geld und an den nötigen Kontakten. Bei Friedhelm Oriwol, dem leidenschaftlichen Sammler vom Walchensee, fand Kreuz offene Türen.

Oriwol ist mittlerweile 87 Jahre alt, aber noch immer von Tatendurst durchdrungen. "Es ist mir ein Bedürfnis, Charlotte von Maltzahn aus der Vergessenheit zu reißen", sagt er. 2017 erwarb er die Sammlung unter der Zusage, dass die Bilder im Museum wissenschaftlich aufbereitet, gereinigt und restauriert sowie angemessen präsentiert würden. Zur Bewältigung dieser Mammutaufgabe hat er sich den jungen Kunsthistoriker Symon Johannes Schirmer an seine Seite geholt.

"Unfassbar modern"

Seit eineinhalb Jahren ist der 26-Jährige in den Kosmos der jungen Charlotte eingetaucht, hat ihre Tagebücher gelesen, Briefe und Fotomaterial gesichtet und viele Stunden mit der Enkelin gesprochen. "Was die Bilder so interessant macht, ist die sehr frühe Entstehungszeit, die künstlerische Qualität und die Persönlichkeit der Künstlerin", sagt er. Wie "unfassbar modern" Charlotte von Maltzahn für ihre Zeit war, führt Schirmer Besuchern anhand einer Reihe von Landschaftsbildern vor Augen. An ihnen lässt sich nachvollziehen, wie die Malerin sich von naturalistischen Skizzen löst und frei mit Farbe und Form zu experimentieren beginnt. In einem Buchenwald, der stark an Edvard Munch erinnert, schwingen und tanzen die Stämme im Sonnenlicht. Auf dem Gemälde daneben lässt sich das Motiv Wald nur noch erahnen: Die energiegeladenen Pinselstriche in Ocker und Lila vor tiefdunklem Hintergrund sind nahe an der Abstraktion.

"Es gibt nicht viel Vergleichbares aus dieser Zeit", sagt Schirmer. Er geht davon aus, dass das Gemälde um 1914 entstanden ist - eine der letzten künstlerischen Arbeiten der Malerin. Und: "Eine kleine Sensation."

Maltzahns Geschichte gleicht der vieler talentierter Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Vater, Curt von Maltzahn, hatte dem Mädchen verboten zu malen, erlaubte ihr schließlich zähneknirschend den Besuch von Kunstschulen. "Unter der Bedingung, dass sie nie ein Bild verkaufen dürfe", sagt Oriwol. Nach Studien in Berlin und Kassel sowie Reisen ins europäische Ausland tritt Charlotte 1913 der Damenakademie des Künstlerinnenvereins München bei. Auch Käthe Kollwitz und Gabriele Münter studieren dort. Während der "Blaue Reiter" in Kunstkreisen bekannt wird, nennen sich Charlotte und ihre Freundinnen ironisch "Die Grünen Hunde". Dann setzt der Krieg all dem ein Ende. Charlotte lässt sich zur Hilfsschwester ausbilden. 1918 bekommt sie ein Kind von ihrer großen Liebe Ernst Gorsemann. Der aber wendet sich von ihr ab. Nach Jahren in Söcking und einer gescheiterten Ehe mit dem Kunsthandwerker August Bohde zieht sie 1968 mit ihrer Tochter und deren Familie in ein Bauernhaus in Benediktbeuern. Die alten Bilder werden von einem Dachboden auf den anderen gepackt.

In ihren eindringlichen Frauenporträts scheint Charlotte von Maltzahn in jungen Jahren ein Stück ihres eigenen Schicksals vorweggenommen zu haben. Wie alle ihre Bilder haben diese Arbeiten keine Titel. Und doch zeigen sie Persönlichkeiten. Die Frauen schauen dem Betrachter nie ins Gesicht, sondern haben den Blick abgewandt, gesenkt, nach innen gekehrt. Dabei sind sie von einer Art fließenden Aura umgeben. "Sie leuchten", sagt Schirmer, "sie wurden vor mehr als hundert Jahren gemalt, aber sie leben."

Ihm gefällt die Ausrichtung des Museums auf bedeutende Frauen wie Maria Marc, Charlotte Bernd-Corinth und jetzt Charlotte von Maltzahn. Von all diesen "Malweibern", wie sie von Zeitgenossen verhöhnt und unterdrückt wurden, hat die Walchensee-Stiftung bedeutende Werke erworben. Die Fokussierung auf diese Künstlerinnen würde er gerne weiter herausarbeiten, sagt Schirmer. "Die Männer gibt es überall, wir haben die Frauen. Und die sind mindestens genauso gut, wenn nicht besser."

Allerdings stößt auch das Walchensee-Museum gerade an Grenzen. In den vielen verwinkelten Zimmern, einige mit grandiosem Seeblick, hat Friedhelm Oriwol eine unfassbare Fülle von heimatkundlichen und künstlerischen Exponaten zusammengetragen: angefangen von einer dreitürigen Mausefalle der alten Urfelder Poststation (samt gehäkelter Wollmaus) bis hin zu hochkarätigen Grafiken von Lovis Corinth. Woran es fehlt, ist Raum. Die ausgewählten Maltzahn-Arbeiten - etwa 40 Ölgemälde, dazu Drucke und Zeichnungen - verteilen sich über drei Etagen, mehrere Zimmer, Gänge und das Treppenhaus. Der Besuch der Sonderschau wird so zu einer Art Schatzsuche. Eine Belohnung jedoch ist garantiert.

Sonderausstellung Charlotte von Maltzahn, Walchensee-Museum, 30.Mai bis 29. September, Donnerstag bis Sonntag 10.30 bis 16.30 Uhr, Infos unter http://www.walchenseemuseum.de

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4466257
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.05.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.