Süddeutsche Zeitung

Benediktbeuern:Was nicht auf dem Notenblatt steht

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Zum zehnten Mal leitet Markus Kreul seinen Meisterkurs im Kloster Benediktbeuern. Dass dort Außergewöhnliches passiert, hat sich nicht nur bei jungen Talenten in ganz Deutschland herumgesprochen. Auch das Publikum fiebert mit

Von Sebastian Proksch, Benediktbeuern

Dieses Mal unterbricht er die Probenden schon ganz zu Beginn. Die einleitenden Tonfolgen des Klaviers sind nicht deutlich genug. Erst einige Takte später dürfen sie diffuser, konturierter werden. Das Trio aus Klarinette, Gesang und Piano fängt noch einmal von vorne an. Und der Einstieg klingt tatsächlich etwas leichter und klarer. Es ist bereits das zehnte Jahr in Folge, dass Markus Kreul, Pianist und Hochschullehrer am Leopold Mozart Zentrum in Augsburg, seinen Meisterkurs für Klavier, Kammermusik und Liedgestaltung in Benediktbeuern anleitet. Der Kurs soll jungen Musikern und Musikerinnen ermöglichen, in einer Woche konzentriert gemeinsam Stücke einzuüben und diese direkt im Anschluss im Rahmen von drei Konzerten vorzuspielen.

Die Räumlichkeiten des Zentrums für Umwelt und Kultur (ZUK) in Benediktbeuern, die unter anderem der Jugendbildung und -fortbildung dienen sowie über fünf Klaviere verfügen, scheinen wie maßgeschneidert für den Kurs. Man hätte vor zehn Jahren nur aufwecken müssen, was bereits in den Räumen steckte, sagt Kreul.

So proben die fünfzehn Jungmusiker im ersten Stock eines 300 Jahre alten Hauses, dessen Boden teils aus massiven Steinfliesen, teils aus hellem Holz besteht. Neben durch- und ineinander ragenden dunkelbraunen Holzstreben, die das Dach halten, sind die alten Gemäuer des Hauses freigelegt und werfen Gesang wie Instrumentalklänge auf die Probenden zurück.

Wie lange sollte eine Fermate angehalten werden, damit sie das Stück nicht ausbremst? Wie können Themen wie Tod und Vergänglichkeit in der Gesangsstimme von Richard Strauss' "Lob des Leidens" überzeugend herübergebracht werden? Wer muss sich zurücknehmen, wer genauer spielen, wenn das Stück an einer Stelle noch zu voll, zu reichhaltig klingt? Geübt und geprobt wird vor allem dasjenige, das nicht auf dem Notenblatt steht, aber beim Auftritt doch den Unterschied macht.

Besonders wichtig ist Kreul, dabei ein Ambiente zu schaffen, in dem "man sich gegenseitig stark machen kann", also eine Kombination aus freundschaftlich und verbindlich, kollegial und auf die volle Entwicklung bedacht. In der Welt der Profimusiker scheint das noch viel zu selten der Fall zu sein. Zu groß sind der Leistungsdruck, die Angst nicht gebucht zu werden. "Musiker müssen sehr viel üben und tun das allzu oft in Isolation", sagt Kreul.

"Eine solche aufbauende, freundliche Stimmung wie hier ist unter Musikern nicht selbstverständlich", weiß auch Ayla Schmitt, die als Klavierpädagogin und Pianistin in Freiburg arbeitet und zum ersten Mal den Benediktbeurer Kurs besucht. Ihr Kollege am Piano, Stefan Pitz, sieht den Kurs als klares Vorbild für die Musikwelt. "Es muss nicht alles unter Druck stattfinden. Dieser Kurs zeigt beispielhaft, wie es ist, wenn man befreit musizieren kann."

Dem Miteinander förderlich ist unter anderem, dass die Teilnehmer in einem eigenen Trakt übernachten, die Wege zu den Proberäumen trotzdem kurz sind und in den Pausen immer wieder gemeinsame Spaziergänge unternommen werden. So könne man sich niederschwellig über Themen wie Lampenfieber austauschen, die unter Musikern normalerweise nicht so oft angesprochen werden, berichtet Pitz, der extra für die Teilnahme am Kurs aus Eupen in Ostbelgien angereist ist. Von dem Kurs habe er vor neun Jahren während seines Erasmus-Semesters in Nürnberg gehört und plane ihn seitdem jedes Mal als festen Teil seines Jahresprogrammes ein.

Auch für Schmitt bringt die Nähe zu den anderen Musikern Vorteile. "Es kommt zum Beispiel vor, dass man abends beisammensitzt und auf einmal heißt es: Jetzt weiß ich, wie wir diese Stelle spielen! Obwohl wir da gar nicht geprobt haben." Einen "gemeinsamen Weg" möchte Kreul nicht zuletzt in seine Kritik als Lehrer aufnehmen. Er versuche dauerhaft, die eigenen Ideen mit den Angeboten der jungen Musiker abzugleichen, um am Ende auf ein der Struktur angemessenes Ergebnis zu kommen. Außerdem lasse er die Teilnehmenden in immer neuen Konstellationen zusammenspielen: "Es ist unglaublich, wie viel Energie und Erfahrung sie sich gegenseitig geben." Man merke richtig, wie Jahr für Jahr das Niveau wächst.

Über die Zeit habe sich der Kurs zu einer Art Netzwerk für junge Musiker entwickelt, sagt der Kursleiter. Über das Netzwerken hat beispielsweise die Freiburger Gesangspädagogin Susanne Müller zu dem Kurs gefunden. Stefan Pitz habe ihr während des Europäischen Musikworkshops in Altomünster von dem "tollen Kurs in Oberbayern" berichtet; nun ist sie seit acht Jahren dabei. Sehr viel Auftrieb gebe ihr die Resonanz der Konzertbesucher. Genauso wie Kreul ist dem wiederkehrenden Publikum nämlich aufgefallen, dass die Jungmusiker in Benediktbeuern Fortschritte machen. "Einige merken, dass meine Stimme deutlicher geworden ist, andere befinden mein piano für besser als beim letzten Mal."

Genau diese Interaktion mit Zuhörern und Zuhörerinnen hat den angehenden Musikern zu Lockdown-Zeiten am meisten gefehlt. Ohne ein Konzert vor Augen zu proben, "das ist wie, wenn du lauter Geschenke einkaufst, aber nicht weißt, wem du sie schenken kannst", sagt Schmitt, "denn jeder, der Musik macht, lebt aus der Leidenschaft, sie zu teilen." Fast schon erstaunt war Sängerin Müller, als sie den Leuten endlich wieder ins Gesicht schauen konnte, während sie singt.

Noch immer sind Veranstalter zurückhaltend und organisieren Veranstaltungen höchstens unter Vorbehalt. Umso dankbarer sind die musikalischen Nachwuchstalente für die Möglichkeit, im ZUK aufzutreten. An der Umsetzung der Konzerte war der ZUK-Kulturreferent Wolfgang Lichtenstern maßgeblich beteiligt. Um der Pandemie Einhalt zu gewähren, müssen die Musiker, wenn sie nicht spielen, eine Maske tragen, Zuschauer müssen Plätze reservieren und die drei Abendprogramme sind auf jeweils 75 Minuten gekürzt.

Speziell während der Corona-Pandemie würde es jungen Musikern schwerfallen, in den Beruf des Musikers hineinzufinden, sagt Kreul. Stefan Pitz wie auch Klarinettistin und Klarinettenlehrerin Lisa Riepl freut es deshalb sehr, dass im Rahmen des Meisterkurses zugleich projektbezogene Arbeit gelehrt wird. Die Teilnehmenden betreiben Öffentlichkeitsarbeit, indem sie selbst Fotos schießen und Plakate verteilen, sie entwerfen ihre eigenen Stundenpläne und helfen beim Aufbau der Bühne. Diese Aspekte des Berufes würden anderswo untergehen, sagt Riepl.

Und in einem weiteren Punkt hat der Benediktbeurer Kurs eine Vorreiterstellung, nämlich in der Zusammenarbeit von Sängern und Instrumentalisten. Sie sei ziemlich überrascht gewesen, als Pitz sie vor acht Jahren angesprochen habe, und somit auch einmal ein Pianist auf eine Sängerin zugekommen sei, erinnert sich Müller, denn normalerweise sei es anders herum. Dabei können Sänger und Instrumentalisten unglaublich viel voneinander lernen, das betonen fast alle Teilnehmenden. Wer auf möglichst natürliche Weise spielen möchte, der müsse "auf seinem Instrument singen", so Riepl, denn der Gesang sei die natürlichste Form des Musikmachens.

Als sich im Lied "Seit ich ihn gesehen" von Franz Lachner die Klarinettenstimme und der Gesang übereinanderlegen, schauen sich Riepl und Müller tief in die Augen - und treffen jeden Ton zur richtigen Zeit. Gemeinsames Proben zahlt sich aus.

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SZ vom 26.08.2021
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