Süddeutsche Zeitung

Bad Tölz:Von Sittenwächtern zu Lebensrettern

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Die Bergwacht Bayern ist gerade 100 Jahre alt geworden. Der Festakt ist wegen Corona auf kommendes Jahr verschoben worden. Dann soll am Hauptsitz in Bad Tölz auch der Bau des Verwaltungsgebäudes beginnen.

Von Sandra Freudenberg, Bad Tölz

Eigentlich sollte Bad Tölz in diesen Tagen große Feierlichkeiten erleben. Die Bergwacht Bayern, die in der Kurstadt ihren Hauptsitz hat, ist schließlich am Sonntag 100 Jahre alt geworden. Doch die Corona-Pandemie hat auch den Bergrettern einen Strich durch die Rechnung gemacht: Der ursprünglich geplante Staatsempfang mit Festakt wurde bereits vor Wochen abgesagt und ist nun für kommendes Jahr geplant. Wenig Trubel also in Tölz, während es in den Einsatzgebieten der Bergwacht schon wieder hoch hergeht: Das gute Wetter und die gelockerten Corona-Beschränkungen haben in den letzten Tagen der Pfingstferien Tausende Ausflügler auf die Gipfel gelockt.

Der Blick zurück auf die Entstehungsgeschichte der Bergwacht zeigt, dass der Massenansturm ins alpine Gelände kein Phänomen der heutigen Freizeitgesellschaft ist. Als am 14. Juni 1920 Vertreter von Alpenvereinssektionen und Wandervereinen im Münchner Hofbräuhaus die Bergwacht gründeten, war ihr Motiv weniger die Rettung verunglückter Wanderer im steilen Gelände. Es ging vielmehr um die Rettung der Berge vor den Menschen. Enzian wurde damals von den Sommerfrischlern körbeweise ausgerupft. In den Zügen ließ man sich offenbar etwas gehen, und auf den Hütten nahm man es mit der Geschlechtertrennung im Matratzenlager nicht so genau. Frei nach Schillers "In den Bergen lebt die Freiheit" legte man auf den Hütten eine andere Moralvorstellung als in den Städten zu Grunde. Und bedenkt man, dass bereits König Ludwig im Karwendel auf dem Schachenhaus "orientalische Haremsgelage" abhielt, kann man durchaus von einer gewissen Tradition des Eskapismus von den engen Moralvorstellungen des urbanen Bürgertums sprechen. "Natur- und Sittenwacht" hatten die Gründungsväter ihren Zusammenschluss vor 100 Jahren getauft. Die Bergwacht sollte "zur Bewahrung der guten Sitten und dem Schutz fremden Eigentums im Kontext des Bergsteigens und des alpinen Skilaufs" dienen. Ein Auszug aus der Gründungsurkunde verdeutlicht die geistige Haltung von damals: Ziel war es, "unsere Berge vor den Auswüchsen übelster Elemente zu säubern ... um zu verhindern, dass sich der Abschaum der menschlichen Gesellschaft in unserer hehren Bergwelt einnistet und sie mit ihren Orgien besudelt."

Der Stützpunkt Bad Tölz wird heuer gleichermaßen 100 Jahre alt. Weniger bekannt ist jedoch, dass in Tölz bereits 1899 eine alpine Rettungsstelle gegründet wurde, in der es den Tölzern auch damals schon rein um die Rettung in Not geratener Bergsteiger ging, die heute Kernaufgabe der Bergwacht ist. Was in den Anfangsjahren gerne als "Blumenpolizei" verspottet wurde, ist 100 Jahre später eine professionelle alpine Rettungsorganisation. Die ehrenamtlichen Einsatzkräfte leisten in den bayerischen Alpen und Mittelgebirgen mittlerweile durchschnittlich 8500 Rettungseinsätze im Jahr - Tendenz steigend.

Aus den Sittenwächtern sind Lebensretter geworden. Der Grundsatz der Bergwacht Bayern, die seit der Nachkriegszeit eine eigenständige Gemeinschaft des Bayerischen Roten Kreuzes ist, lautet heute: "retten statt richten". Die ehrenamtlichen Bergretter sehen sich im Dienst der Hilfsbedürftigen. "Für uns steht allein der in Not geratene Mensch im Mittelpunkt", erklärt Roland Ampenberger. "Wir beurteilen weder Ursache, noch Geschehen und stellen uns auch nicht die Schuldfrage", sagt der Sprecher der Bergwacht Bayern in seinem Containerbüro am Sportpark Bad Tölz, durch dessen Fenster er auf den Schafreuter sehen kann.

Das Provisorium, in dem Ampenberger und seine Kollegen arbeiten, steht in Kontrast zum modernen Ausbildungszentrum der Bergretter in Bad Tölz: Im Jahr 2008 hat die Stiftung Bergwacht das weltweit einzigartige Simulationszentrum für Rettungssituationen bezogen. Dort üben sich die Retter seitdem zum Beispiel darin, wie man vom Hubschrauber aus Einsätze ausführt oder wie man Menschen aus dem Sessellift bergen kann. Um ein dazugehöriges Verwaltungsgebäude zu bauen, fehlten jedoch damals die finanziellen Mittel. So müssen Ampenberger und die anderen Mitarbeiter seit mehr als zehn Jahren mit der Containerlösung zurecht kommen. Auch die ehrenamtlich tätigen Retter des Stützpunktes Bad Tölz sind derzeit im Container untergebracht. Noch in diesem Jahr soll jedoch mit einem Neubau aus nachwachsenden Rohstoffen begonnen werden. Im kommenden Jahr will dann auch die Bergwacht Bayern mit dem Bau eines neuen Verwaltungsgebäudes beginnen.

Für die Zukunft sieht die Bergwacht ihre Herausforderung darin, die aufwendige Ausbildung der Retter zu forcieren. "Der ehrenamtliche Anwärter benötig ungefähr drei Jahre, um alle Fähigkeiten zu erwerben", sagt Ampenberger. Gleichzeitig steht die Bergwacht vor der Aufgabe, die Vorteile der Digitalisierung und Robotik zu erkennen und in ihre Arbeit zu integrieren. Die neue Technik verkürze vor allem die Zeit, in der man heute einen Verunglückten ausfindig machen könne, erklärt der Bergwacht-Sprecher. Ampenberger wünscht sich, dass Bergsteiger, die in eine gefährliche Situation geraten, nicht zögern, einen Notruf abzusetzen. So könne man Unfälle und Verletzungen besser vermeiden, sagt er. "Lieber einmal zu früh als zu spät um Hilfe bitten", lautet seine eindringliche Empfehlung an alle Bergsteiger.

Gewürdigt wird das Jubiläumsjahr der Bergwacht Bayern dieses Jahr mit einer großen Sonderausstellung: Die findet vom 30. August bis zum 27. September im Festsaal des Alpinen Museums auf der Praterinsel in München statt. Besucher können dort alles über die Entwicklung der Bergrettung in Bayern erfahren und - neben heute eingesetzter Ausrüstung - auch Rettungsmaterialien von der ersten Lebendrettung aus der Eiger Nordwand im Jahr 1957 sowie Rettungsschlitten der Olympischen Winterspiele 1936 aus der Nähe sehen.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2020
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