Süddeutsche Zeitung

Ausgezeichnetes Projekt:Mit Vera durchs Werkstor

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Geretsrieder Gymnasiasten haben eine App erfunden, die einen persönlichen Zugang zur Geschichte Föhrenwalds und Waldrams ermöglicht. Dafür haben sie einen Preis des Bundespräsidenten gewonnen.

Von Felicitas Amler, Geretsried

Um halb vier in der Früh muss die 15-jährige Vera aufstehen, um mit der Werksbahn rechtzeitig von Föhrenwald in die Rüstungsfabrik zu gelangen. Ihre Arbeit ist gefährlich, sie hantiert mit Sprengstoff. Vera stammt aus der Ukraine, in einem Viehwaggon haben die Nazis sie nach Föhrenwald verschleppt. Die junge Zwangsarbeiterin ist eine fiktive Figur, erdacht von einer Gruppe Geretsrieder Gymnasiasten. Die jungen Leute, zwischen 15 und 17 Jahre alt, haben sich in einem Wahlkurs "Politik und Zeitgeschichte" bei Geschichtslehrerin Eva Greif intensiv mit der Historie des Lagers Föhrenwald befasst, das seit dem Ende der Fünfzigerjahre "Waldram" heißt und ein Stadtteil Wolfratshausens ist. Sie haben die Grundlage für eine App geschaffen, mit der eines Tages jugendliche Besucher des Erinnerungsorts Badehaus dessen Umgebung erkunden können. Für ihre herausragend kreative Arbeit haben die Gymnasiasten den bayerischen Förderpreis im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten gewonnen.

Im Badehaus werden drei historische Phasen beleuchtet: die NS-Zeit, in der für die beiden großen Rüstungsbetriebe im Wolfratshauser Forst die Arbeitersiedlung Föhrenwald errichtet wurde; die Nachkriegszeit, in der jüdische Überlebende der Shoa dort ein großes Shtetl-ähnliches Lager für Displaced Persons bewohnten; und die darauf folgende Ansiedlung kinderreicher katholischer Heimatvertriebener. Für alle drei Zeitschienen haben die jungen Leute eine Person erdacht. Neben Vera sind dies das jüdische Mädchen Esther, das mit den Eltern nach dem Pogrom von Kielce aus Polen geflohen ist, und der aus dem Sudetenland vertriebene Junge Josef.

Zu dieser Figur hat Loren die wesentlichen Impulse gegeben. Denn ihre Urgroßeltern sind Heimatvertriebene, Deutsche aus Ungarn. Dem Uropa und der Uroma habe sie eine Riesenfreude gemacht, erzählt Loren, weil sie sich auf einmal so für ihre Geschichte interessierte: "Sie waren beide begeistert." Diese Erfahrung hat auch ihre Mitschülerin Lena gemacht. Und Amelie, die selbst in Waldram lebt, hat entdeckt, was sie früher alles übersehen hatte. Am Badehaus sei sie ja ganz oft vorbeigekommen, ohne etwas darüber zu wissen, sagt sie. "Man denkt gar nicht, dass so viel Geschichte in seinem Heimatort steckt."

Das sei es, was besonders viel Freude an diesem Wahlkurs gemacht habe, sagt auch Friederike. Interesse an Geschichte sei das eine, aber noch spannender sei "das Lokale", die Frage: Was ist hier passiert?

Nina nennt noch einen anderen Grund, warum ihre Gruppe an diesem Wahlkurs, der nicht zum Unterricht gehörte, für den es noch nicht einmal Noten gab, so gern teilgenommen hat: "Wir haben etwas gemacht, was hält. Nichts, was in einem Aktenordner verstaubt, sondern etwas, was wir mit anderen Menschen teilen können."

Dazu musste die Gruppe, die sich einmal pro Woche zur Gemeinschaftsarbeit traf, viel recherchieren und oft das Badehaus besuchen. Die Daten und Fakten, auf denen die erdachten Charaktere beruhen, mussten ja stimmen. Eva Greif sagt, auch einige Eltern hätten das Unterfangen engagiert unterstützt. Friedas Mutter etwa, die in einem Tonstudio arbeitet, in dem Laura, Felix, Amelie und Sophie die vorbereiteten Texte einlesen konnten. Oder Ninas Vater, der Informatiker ist und Erfahrung in Zusammenarbeit mit Museen hat, wie seine Tochter sagt.

Christoph Strödecke, der Direktor des Gymnasiums Geretsried, sagt, die jungen Leute hätten ihn "richtig angesteckt" mit ihrer Begeisterung für Geschichte. Es sei beeindruckend, wie sie sich mit einer Sache einfach um ihrer selbst willen befasst und damit für Geretsried und Wolfratshausen "einen soziokulturellen Beitrag geleistet" hätten. Strödecke würdigte die jungen Leute nachdrücklich: "In meinem Pädagogenleben seid ihr ein echter Goldfund. Und die Frau Greif auch." Greif, die sich neben ihrer Arbeit als Lehrerin auch im Vorstand des Badehaus-Vereins engagiert, will die App nun mit dem Historiker und stellvertretenden Vorsitzenden Emanuel Rüff fertigstellen. Ein Sponsor werde dafür noch gebraucht, sagt sie.

Eines Tages werden Badehaus-Besucher sich dann entscheiden können, ob sie mit Vera das Torhaus passieren und in die Werksbahn steigen, mit Esther das kleine Häuschen am New-York-Platz verlassen, um die Synagoge zu besuchen, oder mit Josef zum neuen Sportplatz in Waldram schlendern. Alles virtuell, natürlich.

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Quelle:
SZ vom 25.09.2019
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