Süddeutsche Zeitung

Auftakt des Theatersommers Irschenhausen:Zerstörerische Leidenschaft

Lesezeit: 2 min

Anatol Regnier und Julia von Miller bringen dem Publikum bei der "Gesellschaft unterm Apfelbaum" die obsessive Beziehung zwischen Frank Wedekind und Tilly Newes mit kluger Textauswahl nahe.

Von Wolfgang Schäl, Icking

Es war ein Auftakt nach Maß, mit dem die Ickinger "Gesellschaft unterm Apfelbaum" ihren diesjährigen Theatersommer 2021 eröffnet hat. Der Erfolg war einmal mehr das Verdienst der Initiatorin Barbara Reimold und ihrer vielen Helfer, die es ermöglicht haben, einen Reigen mit nicht weniger als zehn Veranstaltungen zusammenzustellen, und die für ihr Engagement herzlichen Applaus erhielten. Sie alle hatten heuer aber auch das Glück der Tüchtigen auf ihrer Seite, denn das Wetter spielt ja eine entscheidende Rolle für Kultur in diesem weitläufigen, traumhaften Areal an der Ickinger Pfaffenleite.

Diesmal war es ein rosiger, freundlicher Abend, der große Lust auf Theater in einem einzigartigen Ambiente erweckte: mitten auf der Wiese weiß gedeckte Tische mit Kerzen, kleine Leckereien, lockere Plaudergrüppchen, die Damen mit einem Gläschen Rosé, die Herren eher mit einem italienischen Roten. Das alles mit Alpenblick, maximal entspannt und sehr gut besucht, übrigens auch von Stechmücken. Aber Antibrumm, Regenschirm, warme Jacken und Wolldecken hat das erfahrene Publikum sowieso immer dabei.

Freiluft-Theater hat eben seine besonderen Bedingungen, und die werden angesichts dieser besonderen Atmosphäre ohne Murren hingenommen. Größere Lücken in den vielen vor der kleinen Bühne aufgestellten Klappstühlen waren jedenfalls nicht erkennbar. Und schließlich ging es ja auch um ein zentrales Thema, das selbst noch im fortgeschrittenen Alter die Menschen beschäftigt: um Liebe, mit ihren Untiefen und Verrücktheiten, Bedrohungen, Verletzungen und all ihrem Glück. Die Überschrift "Skandal in Irschenhausen" beförderte offenkundig Erwartungen.

Beispielhaft dafür ist die Beziehung des zu seinen Lebzeiten umstrittenen, als exzentrisch geltenden Dramatikers und Provokateurs Frank Wedekind, der 1918 mit erst 54 Jahren an den jahrelang anhaltenden Komplikationen einer verschleppten Blinddarmentzündung starb, und der um 22 Jahren jüngeren Schauspielerin Tilly Newes, eine am Ende zerstörerische Leidenschaft, die in einer Flut von 700 Briefen dokumentiert ist. Wer wäre da besser geeignet gewesen als Frank Wedekinds Enkel und Biograf Anatol Regnier, selbst Schauspieler, Musiker und Autor, um das Leben seines Großvaters zu dokumentieren und zu illustrieren. Gemeinsam mit der Sängerin und Kabarettistin Julia von Miller zeichnete er bei seinem Ickinger Auftritt ein Bild von der obsessiven Beziehung zwischen Tilly, die sich von Wedekinds Avancen überaus geschmeichelt fühlte, und ihrem Schauspielerkollegen.

Wedekind war nicht zaghaft im Werben um Tilly, bat gleich um ein Foto der "verehrten großen Künstlerin", das ihm unverzüglich auch gewährt wurde. Es begann eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, die in eine eheliche Verbindung mit zwei Töchtern mündete und sich in der umfänglichen Korrespondenz und Regniers Biografie bis ins Detail nachvollziehen lässt. Sie verrät in ihrer Gesamtheit nicht nur allerlei Alltägliches und Intimes - "wir küssen uns, dass es nur so kracht vom Genick bis in die Waden" -, sondern auch viel über damals gültiges Rollenverhalten zwischen den Geschlechtern und stellt damit auch ein Stück Zeitgeschichte der Epoche um die Jahrhundertwende dar. Das Verhältnis zwischen den beiden Eheleuten eskaliert schließlich in einem Selbstmordversuch der manisch-depressiven Tilly, die ungeachtet des großen Altersunterschiedes rührend um Wedekinds Liebe ringt, und ihrem sexuell zunehmend provokanten und ausschweifenden, abweisenden, gleichzeitig aber hochgradig eifersüchtigen Mann - bedrückende Stationen auf dem Weg zur Ausweglosigkeit.

Die zwei Protagonisten des Abends haben das persönliche Verhängnis zwischen Tilly und Wedekind samt ihrem gesellschaftlichen Hintergrund mit einer klugen Textauswahl aus Regniers Wedekind-Biografie und den gesammelten Briefen plausibel gemacht, soweit ein solches Verhängnis verstehbar sein kann. Unterbrochen wurden die rhetorisch unspektakulär vorgetragenen Texte immer wieder mit Liedbeiträgen - eine willkommene Ergänzung. Denn mit Julia von Miller und Anatol Regnier standen auch zwei musikalisch versierte Darsteller auf der kleinen, aber erlebnisträchtigen Apfelbaum-Bühne.

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Quelle:
SZ vom 02.08.2021
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