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Wintersport:"Wenn ich keinen Erfolg gehabt hätte, hätte ich es nicht gemacht"

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Sie war berühmt für ihre Sprungkraft: Gerti Schanderl-Ostermeier war in den Siebzigerjahren die viertbeste Eiskunstläuferin der Welt. Heute verleiht und verkauft sie Schlittschuhe und kennt sich mit Kufen und Passformen aus wie sonst kaum jemand. Sie selbst läuft nicht mehr

Von Mercedes Lauenstein

Das Eingangsgebäude stammt aus den Achtzigerjahren: dunkles Holz, Sichtbeton, ein alter S-Bahn-Fahrkartenautomat als Kassenautomat, eine litfassäulenartige Nachrichtentafel mit Steckbuchstaben. Es riecht nach Seife, Linoleum und vergessenen Turnbeuteln. Der Eingang erinnert an ein Freibad. Wer aber durchs Gebüsch lugt, erkennt das Eishockeyfeld und drumherum den in München einzigartigen Freiluft-Eisschnellaufring. Im Eis- und Funsportzentrum Ost am Ostpark kann man sich beim Schlittschuhlaufen aufgrund der Nähe zur Natur zumindest ein klein wenig fühlen wie auf einem zugefrorenen See. Alle anderen Eisschnelllaufringe der Stadt sind überdacht.

Viele Schlittschuhläufer sind bestens ausgestattet, sie kommen in der Saison nahezu täglich. Anderen fällt mit Mitte 30 ein, dass sie schon seit 20 Jahren nicht mehr Schlittschuhlaufen waren. Wer sich in so einem Fall auf Eis wagt, wird zuvor Gerti Schanderl-Ostermeier kennenlernen. Sie war 1974 bei der Weltmeisterschaft in München die viertbeste Eiskunstläuferin, auch bei der Europameisterschaft im gleichen Jahr in Zagreb wurde sie Vierte. Viermal wurde sie deutsche Meisterin. Heute verleiht und verkauft die 63-Jährige Schlittschuhe.

Der kleine Verkaufsraum in der Eissportwelt, wie das Geschäft heißt, hängt voller Autogramm- und Grußkarten einstiger Eislaufstars, viele Fotos sind bereits vergilbt. Aufnahmen von Schanderl selbst findet man nicht allzu viele. Überhaupt, so macht es zumindest den Eindruck, interessiert sie sich nicht sonderlich für alte Dokumente ihrer Karriere. Die mehr als 150 Kleider, die ihre Mutter ihr eigens fürs Eis nähte, sind längst verschwunden. "Ja mei, die Mutti wird sie halt irgendwann weggeschmissen haben, wer kann das denn alles aufheben", sagt Gerti Schanderl-Ostermeier. Und auch Videoaufnahmen von ihren Auftritten hat sie keine, "das gab es doch damals alles noch gar nicht", sagt sie.

Das stimmt nur bedingt. Auf Youtube findet man ein Video aus dem Jahr 1973, schwarz-weiß, nicht in Farbe. Es ist eines der wenigen noch existierenden Dokumente ihrer Karriere und zeigt ihre Kür bei den Europameisterschaften in Köln, damals wurde sie Fünfte. Ein Eiskunstlauf-Fan hat es hochgeladen und darunter eine kleine Liebeserklärung auf Englisch verfasst. Übersetzt lautet sie: "Erinnert sich noch jemand an das Video von Dorothy Hamill, wie sie 1974 weinend vom Eis lief, weil das Publikum nicht aufhören wollte, der vorherigen Läuferin zu applaudieren? Diese Läuferin war Gerti Schanderl. Sie leistete erstaunliche Sprünge für ihre Zeit und hatte eine wundervolle Persönlichkeit auf dem Eis. Ihre Doppelaxel gehörten zu den schönsten der Ära. Man gebe dieser Frau heutige Sprungtechnik!" Schanderl bestätigt: "Ich hatte wirklich eine gewaltige Sprungkraft, dafür war ich berühmt. Wenn ich meinen Haus- und Hofsprung gemacht habe und flog, das habe ich geliebt."

Die ehemalige Eiskunstläuferin lacht viel, erzählt gern und nimmt sich in ihrem Fachgeschäft für Schlittschuhe und Eissportzubehör, das sie gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Ostermeier und Sohn Maximilian führt, den Kunden mit einer Herzlichkeit an, die man eigentlich nur noch von alten Tante-Emma-Läden kennt. Auch ihr Münchnerisch ist eine Rarität. Sie sei halt noch "eine Waschechte", sagt sie. In Aubing ist sie geboren und in Aubing lebt sie bis heute.

In ihrem Laden wird sie regelmäßig mit Fragen konfrontiert, von der richtigen Kleidung beim Schlittschuhlaufen bis zum Detail, wie oft man die Kufen schleifen muss.

Also, was brauchen nun Anfänger zum Schlittschuhlaufen? "Kleidung, in der sie sich gut bewegen können. Eine Mütze. Handschuhe sind unerlässlich. Und gute Schlittschuh", sagt sie. Von einem Helm rät sie ab. "Wenn man gute Schlittschuhe anhat und immer schön in den Knien bleibt beim Laufen, fliegt man nicht hintenüber", sagt sie. Schlittschuhe wiederum müsse man im Fachgeschäft kaufen. Im Eissport ginge es so sehr um die Füße, da müsse man sich schon mal beraten lassen, den Fuß vermessen und tüfteln, welcher Schuh der richtige sei, sagt sie. Klar, ist ja auch ihr Geschäft. Wer mit billigen oder schlecht sitzenden Schuhen fährt, fahre gefährlich. Auch größenverstellbare Schlittschuhe seien meist nur bedingt tauglich. Ist ein Fuß außerordentlich kompliziert gebaut, gibt Gerti Schanderl-Ostermeier sogar Sonderanfertigungen in Auftrag. Und wie oft müssen die Kufen von Schlittschuhen geschliffen werden? "Man sagt, alle 30 bis 40 Eisstunden."

Dank ihrer Eiskunstlaufkarriere durfte Gerti Schanderl-Ostermeier durch die ganze Welt reisen. Natürlich sei ihre Jugend geprägt gewesen von den vielen Trainingseinheiten, aber die aufregenden Reisen und Erlebnisse seien schon eine Entschädigung gewesen. Und so schlimm sei das Trainieren nun ja auch nicht gewesen. "Jeder Mensch macht doch das am liebsten, was ihm leichtfällt. Wo er schnell Erfolg hat. Keiner mag auf der Stelle treten. Jeder hat ein großes Talent mitbekommen vom lieben Gott. Und das war halt meins", sagt sie.

Wer weiß, ob sie ihre Begabung je entdeckt hätte. Aber dann sagte der Aubinger Kinderarzt 1962 zu ihrer Mutter, das blasse Kind müsse häufiger an die frische Luft. Und da ihr Vater am Wochenende immer zum Eisstockschießen ging, wurde die Tochter einfach mitgeschickt. Sie zog sich Schlittschuhe an, ging aufs Eis und fuhr los. Stundenlang fetzte sie in ihrem roten Anzug über das Eis und war gar nicht mehr herunterzubringen. Die Erwachsenen nannten sie "kleiner roter Teufel". Sie ging in einen Sportverein - und als man ihr dort bald nichts mehr beibringen konnte, bekam sie Trainerstunden. Und Förderung durch die deutsche Sporthilfe. Trotzdem war das Hobby ihrer Tochter für die Eltern teuer. Die Mutter, eine Fließbandschneiderin, und der Vater, Schlosser bei der Bundesbahn, mussten viel sparen, um ihrer Tochter den Eiskunstlauf zu ermöglichen.

"Wenn ich keinen Erfolg gehabt hätte, hätte ich es nicht gemacht", sagt Gerti Schanderl-Ostermeier. Mit der gleichen Entschlossenheit beendete sie 1977 in Helsinki ihre Wettbewerbskarriere: "Ich war einfach schlecht. Und verletzt. Und meine Mutti hatte Krebs. Irgendwie war es einfach fertig. Aus. Vorbei. Basta." Sie fuhr nicht mit zur WM, sondern nach Hause, nach Aubing, zu den Eltern.

Später bekam sie das Angebot, ihr Geld mit Profi-Schaulaufen zu verdienen - so nennt man es, wenn ehemalige international erfolgreiche Eiskunstläufer auf Shows Pirouetten drehen. "Das war plötzlich so schön. Jeder ist seine Nummern gelaufen. Nur diesmal miteinander statt gegeneinander. Der ganze Druck war raus", sagt Gerti Schanderl-Ostermeier. Einige Jahre tourt sie so durch Europa, einmal trat sie sogar in Japan auf. Dann wurde sie Eislauftrainerin in München und eröffnete 1981 im neugebauten Fun- und Eissportzentrum Ost die Eissportwelt. "Ich wollte immer schon einen eigenen Laden. Eigentlich eine Mode-Boutique. Aber die Mutti hat gesagt: Weißt du, wie viele da eingehen?" Also wurde es eben ein Fachgeschäft für Schlittschuhe und Eissportzubehör.

Heute liegt Schlittschuhfahren wieder im Trend. Auch, weil es eine günstige und umweltfreundliche Alternative zum Skifahren darstellt und die Berge in Zeiten des Klimawandels eh kaum noch Schnee haben. Die Münchner Stadien sind ausgelastet. Eigentlich ein Grund zur Freude. Doch Schanderl ärgert sich ein wenig über die Stadt. Immer wieder falle aufgrund Personalmangels der Stadionbetrieb tageweise aus, oft ohne jede Vorwarnung, schimpft sie. Auch an diesem Vormittag. Zwei angemeldete Schulklassen mussten wieder nach Hause fahren. Nutzt sie die leere Bahn denn dann wenigstens, um selbst mal wieder übers Eis zu fliegen? "Na, wirklich nicht!", sagt sie beinahe empört. Sie gehe gar nicht mehr aufs Eis. "Sie sähen wahrscheinlich nicht einmal einen Unterschied zu früher. Aber ich merke ihn. Und das langweilt mich", sagt sie. Vermisst sie es denn gar nicht? "Nein. Es muss wirklich nicht sein. Wissen Sie: Alles hat seine Zeit."

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SZ vom 25.02.2020
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