Süddeutsche Zeitung

Vorschlag-Hammer:Vorfreude auf Wahrscheinlichkeit

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Programmvorschauen lassen sich derzeit als Wunsch­projektionen lesen. Und als Erinnerung an die Zeiten, als man noch die Qual der Wahl hatte

Kolumne von Harald Eggebrecht

Es herrscht nach etlichen Corona-Monaten ein merkwürdiges Gefühl, wenn geplant werden soll, Treffen für die nächste Zeit verabredet oder kulturelle Aktivitäten unternommen werden sollen. Denn gewiss ist gar nichts. Es kann dann geschehen, dass ein konzerthungriger Violinfan voller Vorfreude auf Beethovens Violinsonaten vorm Prinzregententheater steht und verwundert feststellen muss, dass er der einzige ist vorm verschlossenen Haus. Die Ankündigung in der monatlichen Programmvorschau war nämlich nurmehr eine Chimäre, das angegebene Konzert ist längst abgesagt. Also liest man Konzert- und Theatervorschauen eher als Wunschprojektionen, als Träume, als im besten Falle Hoffnungen auf die Wiederkehr jener inzwischen einem manchmal unendlich fern vorkommenden guten alten Zeiten, in denen nahezu stets die Qual der Wahl vorherrschte.

So wie dem Geigenfex könnte es auch Pianistenfreaks gehen, die am kommenden Sonntag Altmeister Rudolf Buchbinder mit Beethoven-Sonaten hören wollen, weil sie es in Vorankündigungen gelesen haben. Aber der Wiener Klaviervirtuose tritt erst im Oktober 2021 auf, falls Corona es zulässt. Immerhin findet derzeit die verdienstvolle Reihe Stars & Rising Stars statt, die vom wonnigen Mai in diesen frühwinterlichen Oktober verschoben wurde und nun - bisher - auch stattfindet. Doch selbst hier wirkt das vermaledeite Virus immer wieder hinein. So sollte am Sonntag (18.10.) die beliebte Mezzosopranistin Okka von der Damerau im Künstlerhaus auftreten und einige Jungmusiker vorstellen. Doch sie scheiterte an den Quarantänebedingungen. Für Okka von der Damerau springt nun die weltweit geschätzte Sopranistin Ricarda Merbeth ein. Wer Lust aufs Oberland hat, sollte sich, ebenfalls am Sonntag (18.10.), im Kurhaus von Bad Tölz zur Eröffnung des Thomas-Mann-Festivals 2020 einfinden, wenn der Tenor Julian Prégardien Lieder von Felix Mendelssohn-Bartholdy, Benjamin Britten und Gustav Mahler singt.

Am Montag (19.10.) gibt sich dann in der Reithalle, die jetzt Utopia heißt, die wunderbare Geigerin Arabella Steinbacher die Ehre mit aufstrebenden jungen Musikern mit Stücken von Johann Sebastian Bach bis Igor Strawinsky. Wer Lust auf Tenöre hat, sollte am Dienstag (20.10.) ins Gärtnerplatztheater gehen, da kann er gleich fünf von ihnen zujubeln, wenn sie unter dem Titel Herzensbrecher einschlägig sich auslassen. Am Donnerstag (22.10.) führen die Münchner Symphoniker im Herkulessaal unter Leitung ihres Chefdirigenten Kevin John Edusei in musikalische Bildersäle von Max Reger und Modest Mussorgsky. Einen Tag später (23.10.) befeuert Gustavo Dudamel das BR-Symphonieorchester unter anderem bei Robert Schumanns 1. Symphonie. Doch über allem hängt der Spruch, der jede Lottozahlverkündigung begleitet: ohne Gewähr.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2020
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