Süddeutsche Zeitung

Versuchter Totschlag in Seniorenheim:Dement, aggressiv, ungefährlich

Lesezeit: 2 min

Muss die Allgemeinheit vor aggressiven Demenzkranken geschützt werden? Eine 79-Jährige versucht, ihre Bettnachbarin in einem Münchner Seniorenheim zu ersticken. Das zuständige Gericht entscheidet: Die Frau kommt weder ins Gefängnis noch in die Psychiatrie.

Von Christian Rost

Es ist ein Symptom ihrer Krankheit, dass Demenzkranke aggressiv werden können. Pflegekräfte und Angehörige wissen nur zu gut, dass es dabei oft nicht bei verbalen Ausfällen der Patienten bleibt, sondern sie sich auch mit Gewalt durchzusetzen versuchen. Sind die Taten massiv und werden angezeigt, werden auch Demenzkranke regelmäßig vor Gericht gebracht. Trotz der schon augenscheinlichen Schuldunfähigkeit dieser Menschen muss sich die Justiz mit ihnen auseinandersetzen. Dabei geht es häufig um die Frage: Wie gefährlich ist der Kranke? Muss er in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht werden, um die Allgemeinheit vor ihm zu schützen?

Einer dieser Fälle ist gerade am Landgericht München I verhandelt worden. Die Staatsanwaltschaft beantragte ein Sicherungsverfahren gegen eine 79 Jahre alte Frau, die am 17. Oktober 2013 in einem Seniorenheim am Münchner Ostbahnhof ihrer 80 Jahre alten Mitbewohnerin ein Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte, um sie zu töten. "Ich bringe sie um. Ihr schaut immer nur auf sie", erklärte sie einem entsetzen Pfleger, der zufällig gerade noch rechtzeitig ins Zimmer gekommen war. Er kannte die Frau bislang als warmherzig und gutmütig. Die durch die Demenz verursachte Wesensveränderung war bei ihr unerwartet und radikal aufgetreten.

Frau konnte dem Prozess kaum folgen

Der Mann nahm der 79-Jährigen, die im Rollstuhl zu ihrer Bettnachbarin gelangt war, das Kissen ab und brachte sie in ihr Bett. Daraufhin versuchte sie sich zwei Mal mit dem Kabel des Notrufs zu strangulieren. Dem Pfleger blieb nichts anderes übrig, als die Polizei zu holen. Die Seniorin wurde vorläufig in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht. Die Ermittlungen führten zu dem Ergebnis, dass sie trotz hochgradiger Demenz wegen versuchten Totschlags vor Gericht erscheinen musste. Die Staatsanwaltschaft hielt sie für gemeingefährlich und forderte die dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie.

Beim Prozessauftakt Anfang November vor der zweiten Strafkammer saß die Frau dann neben der Anklagebank in ihrem Rollstuhl und "konnte dem Geschehen um sie herum nicht folgen", wie ihr Anwalt Alexis Leiss berichtete. Seit dem Übergriff habe sich der Zustand seiner Mandantin deutlich verschlechtert, sagte der Jurist. Mittlerweile sei sie ohne Hilfe nicht mehr in der Lage, sich im Rollstuhl fortzubewegen, geschweige denn alleine das Bett zu verlassen. "Die Frau ist völlig immobil", so Leiss. Schon wegen des "rasanten körperlichen Verfalls" sei es ihr ganz und gar unmöglich, künftig eine ähnliche Tat zu begehen, meinte der Jurist. Und deshalb sei in diesem Fall auch keine Einweisung in die Psychiatrie angebracht.

"Ein gerechtes Urteil"

Bereits am zweiten des auf vier Verhandlungstage angesetzten nicht öffentlichen Prozesses stand auch für das Gericht fest, dass für die schuldunfähige Frau eine andere Lösung gefunden werden muss. Eine medizinische Sachverständige hatte ihr zuvor attestiert, dass von ihr keine Gefahr mehr ausgeht. Die Kammer entschied, dass sie nicht länger in der Psychiatrie festgehalten werden darf. "Ein gerechtes Urteil", befand Anwalt Leiss. Ein Betreuungsgericht muss nun entscheiden, wo die Seniorin künftig gepflegt wird.

In einem ähnlichen Fall in Garmisch-Partenkirchen durfte ein Demenzkranker nach einem Übergriff auf eine Pflegerin in einem Heim bleiben. Der Mann hatte sie mit einer Fernbedienung geschlagen und schwer verletzt. Auch bei diesem Patienten verschlechteret sich bis Prozessbeginn im April 2013 am Landgericht München II der gesundheitliche Zustand derart, dass das Gericht keine Gefahr mehr von ihm ausgehen sah. Der Mann wurde in eine beschützte Abteilung eines Heims verlegt. Juristen gehen davon aus, dass durch den demografischen Wandel immer mehr solche speziellen Einrichtungen benötigt werden, weil weder Psychiatrien noch Haftanstalten die geeigneten Orte für die Unterbringung aggressiver Demenzkranker sind.

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Quelle:
SZ vom 15.11.2014
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