Süddeutsche Zeitung

US-Tour:Konzert an der Lower Eastside

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Erstmals seit 2003 geht das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auf Tournee durch die Metropolen der amerikanischen Ostküste. Eine Reise, die von Klassikfans in USA und Kanada mit Spannung erwartet wird. SZ-Kulturredakteur Egbert Tholl begleitet die Tour und schildert in einem "Symphonischen Tagebuch" hier täglich seine Eindrücke von den Auftritten der Münchner Musiker und der Kultur- und Klassikszene zwischen Montreal und Washington.

Von Egbert Tholl, Chicago/New York

In Chicago konnte man am Schostakowitsch in BRSO-Perfektion erspüren, dass der Saal mit seiner altehrwürdigen Grandezza klanglich ausgezeichnet für zeitgenössische Musik geeignet wäre. Doch Riccardo Muti, der Chef des Chicago Symphony Orchestra, pflegt hier die hundert Jahre Musikgeschichte, die ihn interessieren. Sonst nichts. Vielleicht auch ein Grund, weshalb die Chicagoer vom BRSO-Auftritt so begeistert waren - sie hörten Musik, die sie hier kaum und wenn, dann in Gastspielen zu hören kriegen.

Die Macht der Super-Maestri ist in den USA bei den großen Orchestern in gewisser Hinsicht größer als in Europa, da sie auch Lockvögel im permanenten Kampf um Spendengelder sind. Ist dann ein Dirigent eher konservativ gesinnt, befriedigt er halt die Nichtneugierigen unter den Donatoren. Aufregen wird seine Auswahl aus dem weitestgehend romantischen Repertoire jedenfalls niemanden.

Im Bus zum Flughafen sitze ich dann neben Fagottist Marco Postinghel. Der kennt sich in Chicago offenbar bestens aus, erzählt mir davon, dass sich hier auch wegen des Konservatismus der Institutionen eine frische Szene zeitgenössischer Musik herausgebildet hat, völlig undogmatisch. Er selbst war am Abend zuvor bei einem Konzert gewesen, das lebendige amerikanische Volksmusik, also Hip-Hop, mit Tanz und einem 80-Mann-Orchester vereinte, im Moment zusammengefügt von einem offenbar improvisierenden Dirigenten.

Dementsprechend animiert geht es in New York am ersten Abend in die Lower Eastside, in etwas, was Spectrum heißt, ein Loft in einem sehr unscheinbaren Haus ist und sich als Wohnzimmer eines musikvernarrten Biochemikers herausstellt. Der selbst ist gar nicht da, er stellt seine Wohnung oft einfach zur Verfügung, und heute spielt Klaus-Peter Werani, Bratscher beim BRSO und selbst Komponist. Er stellt ein eigenes Stück mit fabelhaft soghafter Struktur vor, eines von Markus Münch, das eine zugespielte Original-Reportage von der Hindenburg-Katastrophe mit Musik emotional erweitert, ein als reine Frage formuliertes Solo von Gerard Grisey und ein autobiografisch unterfüttertes, ungemein stilsicher komponiertes Stück von Carl Christian Bettendorf.

Der lebt seit 15 Jahren inNew York, lehrt Komposition an der Columbia University, leitet dort ein Studentenorchester und komponiert. Davor war Bettendorf eine leitende Figur beim Münchner Ensemble Piano Possibile gewesen - ein reizendes Wiedersehen. Ein schön zusammengestelltes Konzert, wie einst bei Piano Possibile, lauter Oberton-irrlichternde Klangstücke, hochspannend, teils mit Live-Elektronik, wenig zum Protzen für den Bratscher - und Werani macht es fabelhaft gut.

Dass er tags darauf bei einer überschäumenden Darbietung von Dvoraks Achter mit dabei ist, mag man sich an diesem Abend kaum vorzustellen. Mariss Jansons ist bei diesem ersten Konzert in der Carnegie Hall so frei, so gut gelaunt, so erfüllt vom Vertrauen ins Orchester, dass es einen einfach mitreißt. Schon bei der Anspielprobe kündigt es an, er werde manches anders machen im Konzert, sonst würde es doch langweilig. Wow, das war ernst gemeint!

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Quelle:
SZ vom 21.04.2016
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