Süddeutsche Zeitung

Ungewöhnliche Brieffreundschaft:Post aus der Todeszelle

Lesezeit: 6 min

Die Münchner Ärztin Jana Scheer bekommt seit vier Jahren Botschaften aus dem Hochsicherheitstrakt eines texanischen Gefängnisses. Ihr Brieffreund ist ein Mörder und Vergewaltiger.

Von Julia Huber

Als Jana Scheer den ersten Brief von Henry Carter liest, schluckt sie erst einmal. "Ich will, dass du mir eine Sache versprichst", steht da. "Dass du niemals aufhörst, mir zu schreiben, ohne zu sagen, warum." Kleine Kuli-Druckbuchstaben auf dünnem Papier. Geschrieben von einem Mann, den Scheer noch nie gesehen hat. Henry Carter heißt eigentlich anders. Er hat Dinge getan, auf die er nicht stolz ist. Er ist ein Mörder und Vergewaltiger. Und nun sitzt er dafür in einer texanischen Todeszelle. Sein Satz katapultiert ihr Kennenlern-Geplänkel in die Ernsthaftigkeit. Carter pfeift auf Smalltalk. Er will sich absichern. Scheer nimmt einen Stift und schreibt zurück: "Ich versprech's dir."

Heute lächelt Scheer, wenn sie an den Moment vor vier Jahren zurückdenkt. Typisch Carter, gleich mit der Tür ins Haus. Die 27-jährige Ärztin sitzt am Esstisch ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung am Westpark. Brauner Zopf, gemütlicher Wollpullover, lautes Lachen. "Mir schien der Deal mit Henry nur fair", sagt sie. Scheer gehört zu denen, die fest entschlossen sind, an das Gute im Menschen zu glauben - ganz egal, was der andere früher einmal getan hat. Ihre Wangen sind leicht gerötet, es ist eine aufregende Zeit für sie: Seit vergangenem Jahr hat sie ihren Doktortitel, seit Kurzem die neue Wohnung. Und seit Januar ihren ersten Job als Assistenzärztin in der Frauenklinik an der Taxisstraße.

Bei Carter gibt es dagegen wenig Neues. Seit er 19 Jahre alt ist, sitzt er im Gefängnis - dieses Jahr wird er 45. Carter ist so etwas wie der Gefängnis-Opa. Er weiß, wie man Kosmetik aus dem Gefängnis-Shop clever gegen Snacks eintauscht. Besondere Schätze versteckt er unter einer Fliese in seiner Zelle. Ein Höhepunkt ist für ihn, wenn er ein Basketballspiel seines Lieblingsteams, den Cleveland Cavaliers, im Gemeinschaftsraum gucken kann.

Seit vier Jahren ist Carter eine Konstante in Scheers Leben. Er ist dabei, als sie für ihre Medizinklausuren in Heidelberg paukt. Er fiebert mit, als sie Experimente im Labor für ihre Doktorarbeit macht. Er staunt, als sie von ihren Urlauben berichtet. Und er drückt die Daumen, als sie einen Schwung Jobbewerbungen losschickt. Carter verfolgt alles aus der Ferne. Als wäre Scheers Leben ein Basketball-Match und er der Zuschauer vorm Fernseher. Carter schaut immer nur zu, nie ist er selber Spieler. Sein Leben findet in einer Zelle von wenigen Quadratmetern statt. Zwischen Bett, Toilette und Schreibtisch. Eine "living hell", sagt Carter dazu, die Hölle auf Erden.

Hier der Knast, da die Karriere - die einzige Verbindung: eine Brieffreundschaft. Warum macht sie das? Es ist das Jahr 2014, Scheer studiert in Heidelberg. Sie ist viel unterwegs, trifft sich mit Freunden, engagiert sich in einer Stiftung. Klassisches Studentenleben. Scheer hört von einem Workshop mit dem Titel "Umgang der Gesellschaft mit Sexualstraftätern". Klingt interessant, sie geht hin. Die Studenten besuchen die Justizvollzugsanstalt Mannheim.

Sie helfen mit, einen Gottesdienst für Gefangene zu gestalten. Scheer bringt ihr Cello mit für die Kirchenmusik. Gut 70 Häftlinge drängen sich in den Bänken der Gefängniskapelle. Es sind Männer, die sonst kaum Kontakt zu anderen Menschen haben. Die den ganzen Tag in Zellen sitzen - alleine mit ihren Gedanken und mit der Schuld. Scheer bemerkt, wie gebannt die Gefangenen vom Gottesdienst sind, manche wirken ganz ergriffen. Sie denkt sich: "Niemand hat es verdient, dass man ihn völlig isoliert sich selbst überlässt."

Dieser Gedanke lässt sie nicht mehr los. Sie will helfen, auch wenn die Unterstützung nur aus der Distanz möglich ist, etwa mit einer Brieffreundschaft. "Lifespark" heißt eine Schweizer Organisation, die solche Kontakte vermittelt. Rund 1300 solcher Freundschaften sind so in den vergangenen 25 Jahren zustande gekommen, aktuell stehen 120 Häftlinge auf der Warteliste. "Lifespark" vermittelt Jana Scheer den Kontakt zu Henry Carter.

Scheer will Carters Einsamkeit vertreiben, indem sie ihm schreibt und ihn so am Leben jenseits der Gefängnismauer teilhaben lässt. Vergangenes Jahr hat sie eine Rucksackreise durch Afrika gemacht. Von dort schreibt sie an Carter: "Es war unglaublich, was für Geräusche die Wildtiere in der Nacht gemacht haben. Ab und an lagen sogar Nilpferde neben unserem Zelt." Er antwortet: "Dein Brief aus Afrika war großartig. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich dort mit dir."

Es ist der 27. Juni 1991, als Carter sein Leben endgültig versaut. Carter, damals ein 18-Jähriger mit kurzrasiertem Haar und dunklem Flaum am Kinn, ist schon auf der schiefen Bahn. Seine kriminelle Bilanz: zwei Vergewaltigungen, ein Einbruch, ein geklautes Auto. An jenem Donnerstag im Juni betritt er einen Waffenladen in der texanischen Stadt Houston. Er tut so, als wolle er eine Pistole kaufen. Der Besitzer des Ladens, ein 47-jähriger Familienvater, beugt sich über den Tresen und will eine Quittung für ihn ausstellen. Carter schießt ihm in den Kopf, der Mann ist sofort tot. Carter schnappt sich noch 26 andere Pistolen aus dem Geschäft und rauscht im geklauten Auto davon.

Heute bereut er es, das sagt er oft. "Ich wünschte, ich könnte mich bei den Angehörigen entschuldigen", schreibt Carter. Aber die Hinterbliebenen des Waffenhändlers weigern sich, ihn zu treffen. Sie waren es, die im Gerichtsverfahren vor 26 Jahren auf seine Todesstrafe pochten. Mit Erfolg.

Februar 2017. Scheer hört plötzlich nichts mehr von Carter. Keiner der prall gefüllten Umschläge liegt mehr in ihrem Briefkasten. Sie schickt einen Brief - keine Antwort. Sie schickt noch einen, wieder nichts. Ihr dritter Brief kommt zurück.

Immer, wenn einer der verurteilten Brieffreunde in den USA hingerichtet wird, verschickt die Organisation Lifespark eine E-Mail an alle Mitglieder. "Lifespark zündet eine Kerze an für William Rayford in Texas", steht da zum Beispiel. "William war 16 Jahre in der Todeszelle. Seine Hinrichtung ist für den 30. Januar angesetzt." Scheer macht sich Sorgen. Bekommt sie eine solche Mail bald auch für Carter?

In keinem seiner Briefe hat Carter sich über die Todesstrafe beschwert. Er schimpft über alles Mögliche: über seine dreckige Zelle, in der die Kakerlaken an der Wand entlanglaufen ("So eklig!"). Über die Gefängniswärter, die ihn mit ihren groben Handschuhen am Arm packen ("Ich bin so was von angepisst!"). In jüngster Zeit hat er viel über US-Präsident Donald Trump geschimpft ("Er ist nicht mein Präsident. Obama war der beste Präsident, den wir hatten. Und das sage ich nicht, weil er auch schwarz ist."). Seine eigene Strafe stellt Carter nie infrage.

Scheer umso mehr. In ihrem Job als Ärztin geht es um Leben und Tod. Im Operationssaal wird um jeden Patienten gekämpft. Ein Rätsel ist ihr deshalb, wie man gesunde Menschen mit Absicht umbringen kann - per Todesstrafe. "Carter tötet jemanden und im Gegenzug soll er getötet werden", sagt sie. "Was ist das denn für eine Logik?"

Carter hat seine Verbrechen vor mehr als 26 Jahren begangen. All die Zeit hat er sich darüber den Kopf zerbrochen. Scheer ist der Meinung, dass er eine zweite Chance verdient hat - zumindest die Chance auf eine Freundschaft. Die beiden schreiben deshalb immer nur über die Gegenwart, nie über Carters Vergangenheit. Ein Balanceakt, den wohl nicht viele Menschen so hinbekommen wie Scheer. Carter sagt, sie sei "seine liebste Freundin".

Carter wäre dann 103

Im September 2017, Scheer hat gut ein halbes Jahr nichts von Carter gehört, findet sie eine E-Mail von einer "Lifespark"-Mitarbeiterin in ihrem Postfach: "Carters Todesstrafe wurde in lebenslange Haft umgewandelt." Viermal lebenslänglich, um genau zu sein: Bis zum Jahr 2077, Carter wäre dann 103. Aber immerhin keine Todesstrafe. Scheer holt die Sektgläser raus. Mit einer Freundin stößt sie auf Carter an - sie freut sich für ihren Brieffreund in den USA.

Ginge es nach Carter, so wären er und Scheer mehr als nur Brieffreunde. Manche seiner Briefe beginnt er mit "hey pretty lady" oder "hey my girl". Gelegentlich schreibt er Songtitel an den Seitenrand, die Scheer sich anhören soll, zum Beispiel "Love" von Kendrick Lamar. Scheer findet das nett, aber mehr als eine Brieffreundschaft kann sie sich mit ihm nicht vorstellen. Sie bleibt auf Distanz. Carter fragt sie, ob sie mit ihm telefonieren möchte - sie lehnt ab. Einmal denkt er, sie hätte sich einen anderen Brieffreund gesucht: "Ich hoffe so sehr, dass du nicht noch einem anderen Brieffreund schreibst." Scheer lacht. Natürlich hat sie sich keinen zweiten Verurteilten gesucht.

Weil Carter nach dem neuen Urteil kein Todeskandidat mehr ist, wird er in ein anderes Gefängnis verlegt. Vor dem Transfer soll er in einer Sammelzelle mit 30 anderen Verbrechern übernachten. Eine neue Erfahrung für Carter, der bislang immer nur in Einzelzellen war. Alle tragen die klassische Uniform in Orange, nur Carter trägt noch seine Sachen aus dem Todestrakt in der gelben Signalfarbe. Von der Farbgebung her ist er der gefährlichste. "Es hat sich irgendwie seltsam angefühlt, sich mitten in einem Haufen verurteilter Krimineller schlafen zu legen", schreibt Carter später an Scheer. "Seien wir ehrlich: Es gibt ein paar gefährliche Menschen im Knast."

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Quelle:
SZ vom 24.02.2018
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