Süddeutsche Zeitung

Umweltschutz und Stadtplanung:Wertvolle Wildnis

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Wohnraum schaffen und gleichzeitig naturbelassene Flächen erhalten - diesen Spagat will der Stadtrat in den kommenden Jahren meistern

Von Thomas Anlauf

Dort, wo einmal Panzer kreuzten, scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Ausgerechnet. In der Fröttmaninger Heide und der Panzerwiese finden Naturschützer heute seltene Pflanzen und Tiere, den Geröll-Hüpferling etwa, den Geißklee und den Flussregenpfeifer. Flora und Fauna, die es sonst in dieser Vielfalt kaum noch in Bayern gibt. Das liegt natürlich daran, dass die Heideflächen im Münchner Norden zwischen Allianz-Arena, Autobahnring, Hasenbergl und der Kieferngartensiedlung seit 2016 in großen Teilen unter Naturschutz stehen und zudem das Betreten nicht nur zum Teil verboten, sondern wegen möglicher Kampfmittel im Boden lebensgefährlich ist. Trotzdem ist Rudolf Nützel, Geschäftsführer des Bundes Naturschutz in München, besorgt. "Einerseits spricht man von Artenschutz, dann macht man aber die Natur kaputt."

Der Forstwirt will seit Jahren verhindern, dass durch das sogenannte Hartelholz mit seinem Wald voller Labkraut, Eichen, Kiefern und Hainbuchen die Verlängerung der Schleißheimer Straße zur Autobahn gebaut wird. Denn es ist für Nützel ein Dilemma: Auf der einen Seite gilt die Großstadt München als Hotspot für die Artenvielfalt. Hier wachsen nach Schätzungen des Referats für Gesundheit und Umwelt etwa 850 wildwachsende Farn- und Blütenpflanzen, leben mehr als einhundert brütende Vogelarten, 59 Arten von Tagfaltern, 37 Heuschrecken-Arten und knapp 200 Bienenarten. Das liegt an der einzigartigen Lage der Stadt zwischen Voralpen und Tertiärhügelland, dazu kommt die Isar als Gebirgsfluss, in dem mittlerweile seltene Fische wie der Huchen schwimmen und an deren Ufern sich immer mehr Biber wohlfühlen.

Andererseits will München angesichts der Wohnungsnot wachsen. Die letzten großen Freiflächen, etwa im Nordosten bei Johanniskirchen oder im Norden bei der Fasanerie und Feldmoching, könnten Wohnraum für Zehntausende Menschen bieten. Da gebe es "zum Teil widersprüchliche Beschlüsse" im Stadtrat, findet Naturschützer Nützel. Auf der einen Seite heiße es "Bauen, bauen, bauen", auf der anderen Seite hat das Umweltreferat vor gut einem Jahr dem Stadtrat eine Biodiversitätsstrategie vorgestellt. Demnach sollen wertvolle Biotope noch besser unter Schutz gestellt und möglichst miteinander vernetzt werden, damit sich Tier- und Pflanzenarten besser ausbreiten können oder angesiedelt werden. Die Stadt soll sogar gezielt Flächen ankaufen, um den Biotopverbund zu verbessern und dort eine Bebauung auszuschließen. Das sind etwa Grundstücke entlang der Bahntrassen, wo sich unbeachtet von den meisten Münchnern eine wertvolle Wildnis entwickelt hat, die so im Umland wegen der intensiven Landwirtschaft oft nicht mehr zu finden ist.

Zwar hatte sich der Stadtrat klar für das Strategiepapier zur Artenvielfalt ausgesprochen, schließlich vollzieht sich der Schwund von Schmetterlingen und Insekten in den vergangenen Jahren für jeden sichtbar in einem atemberaubenden Tempo. Doch die Wohnungsnot und Hunderttausende Autofahrer, die immer häufiger im Stau stecken statt ans Ziel in der Stadt zu gelangen, bringt die Stadträte auseinander. Denn es gilt, den Spagat zu wagen zwischen der Schaffung von Neubausiedlungen und dem Erhalt von weitgehend naturbelassenen Flächen wie der Allacher Lohe, die sich im Nordwesten der Stadt zwischen Rangierbahnhof und Autobahn A 99 auf 150 Hektar erstrecken. Erst vor einem Jahr wurde bekannt, dass just dort, wo die Autobahndirektion Südbayern eine zweite Autobahntrasse samt Tunnel bauen will, die letzten Hirschkäfer Münchens leben, dazu Juchtenkäfer und andere seltene Käferarten. Und der Landesbund für Vogelschutz hat erst am vergangenen Montag bekanntgegeben, dass dort auch eines der letzten Vorkommen von Wildäpfeln in Bayern entdeckt worden sei. Die Münchner brauchen die Natur, nicht nur zur Erholung. Denn gerade große alte Bäume filtern CO₂ und Stickoxide aus der Luft und kühlen die aufgeheizte Stadt.

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SZ vom 29.01.2020
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