Süddeutsche Zeitung

Moderne Medizin in München:Hilfe für die kleine Lunge

Lesezeit: 4 min

Von Stephan Handel

Atmen? Kann doch jeder. Einatmen, ausatmen, Brustkorb heben, Brustkorb senken. Zwerchfell vielleicht noch. Aber daran denken muss kein Mensch - wenn die Atmung nicht funktioniert, dann stirbt er. So einfach ist das.

Bei den Schützlingen von Jochen Peters im Klinikum Dritter Orden ist das allerdings anders. Peters, Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin, kümmert sich unter anderem um Babys, die eigentlich noch nicht auf der Welt sein sollten. Und die, weil ihr Platz eigentlich noch für fünf, acht, zehn Wochen im Bauch ihrer Mutter hätte sein sollen, manches noch nicht richtig können. Zum Beispiel atmen.

"Je früher die Babys zur Welt kommen", sagt Peters, "desto höher ist die Zahl derer, die Atem-Unterstützung brauchen." Denn erst ab der 34., 35. von regulär 40 Schwangerschaftswochen ist die kleine Lunge in der Lage, ihren Menschen ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen. Vorher gleicht das Organ im Brustkorb, bildlich gesprochen, einem Klumpen Gewebe - die Lunge hat sich noch nicht entfaltet, die Lungenbläschen, die Alveolen, über die später Sauerstoff ins Blut und Kohlendioxid in die Ausatemluft gelangt, sind unsortierte Haufen.

Ein Stoff namens Surfactant

Damit das anders wird, benötigt es einen Stoff namens Surfactant - er sorgt für eine Herabsetzung der Oberflächenspannung der Alveolen, was schließlich dazu führt, dass die Lunge sich entfaltet und das Baby atmen kann.

Beim Frühgeborenen jedoch ist das alles noch nicht so weit - Mütter, bei denen eine Frühgeburt erwartet wird, erhalten deshalb Cortison, was die gewünschte Entwicklung unterstützt. Das Baby, das vor der Zeit entbunden wird, erhält dazu nicht-menschliches Surfactant, das aus Schweinelungen gewonnen wird, aber oft reicht das immer noch nicht. Dann wird dem Baby beigebracht, zu rütteln.

Luft mag keine unterschiedlichen Druckverhältnisse

Jedermann weiß, wie Beatmung geht: Wenn ein Mensch selber nicht mehr in der Lage ist, Luft zu holen, dann muss sie von außen zugeführt werden - möglichst im Rhythmus von etwa 60 mal pro Minute. Kaum jemand macht sich bewusst, dass dieser Vorgang den Ablauf beim ungestörten Atmen praktisch umkehrt: Normalerweise dehnen die Rippen den Brustkorb und damit die Lunge. Dadurch entsteht ein Unterdruck gegenüber der Umgebung.

Weil die Luft unterschiedliche Druckverhältnisse nicht leiden kann, strömt sie in die Lunge. Danach zieht sich der Brustkorb wieder zusammen, sein Volumen wird kleiner, die verbrauchte Luft strömt hinaus. So ist, genau betrachtet, die Ausatemphase der aktive Teil des ganzen, Einatmen dagegen passiv.

Zwei widerstreitende Probleme

Bei der künstlichen Beatmung hingegen drehen sich die Verhältnisse um: Von außen wird Druck auf die Lunge ausgeübt, indem Sauerstoff hineingepumpt wird, in beliebiger Konzentration, von 100 Prozent bis zu 21 Prozent, dem O₂-Anteil in der Umgebungsluft. Wird dieser Druck abgeschaltet, fällt der Brustkorb zusammen, verbrauchte Luft strömt nach außen und der Vorgang kann von vorne beginnen.

Frühgeborene Babys haben nun zwei widerstreitende Probleme: Dass sie nicht selbst atmen können, also beatmet werden müssen, damit sie nicht sterben. Dass aber, und das ist die Schwierigkeit dabei, ihre Lunge diese Beatmung nicht gut verträgt. Denn auf das ständige Hin und Her, das Aufblasen und Zusammenfallen, die Dehnung und ihr Gegenteil, ist die kleine Lunge nicht vorbereitet. Ihr Inneres, das ja sozusagen verklebt, verklumpt ist, erleidet durch die Beatmung Einrisse, Einblutungen, Narbenbildung - alles Dinge, die gerade ein so kleines Kind, das auf vielen Ebenen ums Überleben kämpfen muss, gar nicht brauchen kann.

Die Geburtsstunde der Hochfrequenz-Beatmung

Und so dachten sich Ärzte vor Zeiten: Was, wenn man die geschundene Lunge nicht 60 Mal in der Minute aufpumpen würde: sondern nur einmal insgesamt? Und wenn man den benötigten Sauerstoff nicht in großen Portionen zuführen würde, sondern in ganz kleinen, dafür öfter? Das war die Geburtsstunde der Hochfrequenz-Beatmung.

Sie geschieht mit den üblichen Beatmungsgeräten, die diese Funktion als Extra-Feature bereithalten - etwa zehn der Geräte stehen im Dritten Orden zur Verfügung. An die Lunge wird ein Druck angelegt, der höher ist als der durchschnittliche Druck bei normaler Beatmung, sodass die Lunge dauerhaft gebläht wird. Und nun wird in einem hohen Rhythmus Sauerstoff hineingeblasen - die Frequenz beträgt 10 bis 15 Hertz, das sind also Gas-Stöße pro Sekunde, was sich addiert zu 600 bis 900 Stößen in der Minute.

"Jetzt rüttelt er schön"

Die Volumen, die dabei bewegt werden, sind sehr klein. Dennoch ist der Vorgang an dem kleinen Körper spürbar: Er führt zu einer deutlichen Vibration des Brustkorbs. Ob alles so funktioniert, wie sie es sich vorstellen, kontrollieren die Ärzte deshalb, indem sie dem kleinen Patienten die Hand auflegen - wenn es richtig ist, dann sagen sie: "Jetzt rüttelt er schön."

Überhaupt ist die Hochfrequenz-Beatmung ein schönes Beispiel für die Verbindung von Apparatemedizin und ärztlichem Erfahrungsschatz: Wie das funktioniert, wissen sie nämlich nicht so genau, gibt Jochen Peters zu - es gibt ja keine Einatem- und keine Ausatemphase mehr, nur noch den geblähten Brustkorb und die Gas-Stöße. Das Kohlendioxid, das natürlich weiterhin entsteht und abtransportiert werden muss, diffundiert irgendwie nach außen, aber, so sagt Peters: "Erklären könnte das vielleicht ein Strömungstechniker. Uns Ärzte interessiert nur, ob's funktioniert."

Ein Rezept, eine Regel, ein Protokoll gibt es nicht

Es funktioniert, aber das ist noch nicht alles: Forschende Mediziner möchten ja gerne beweisen, dass neue Methoden besser sind als die alten und warum das so ist. Das ist trotz zahlreicher großer Studien bei der Hochfrequenz-Beatmung bislang nicht gelungen - sie zeigt gegenüber der herkömmlichen Beatmungsmethode kein besseres "Outcome", also keine niedrigere Sterberate, auch nicht weniger Spätfolgen oder eine insgesamt bessere Entwicklung. Dennoch ist sie eine anerkannte und weltweit praktizierte Methode beim Versuch, Frühgeborene ins Leben zu holen.

"Wir haben das Gefühl", sagt Jochen Peters, "dass manche Babys damit besser zu stabilisieren sind" - bis sie schließlich, hoffentlich, den ersten Gipfel in ihrer Zeit auf Erden erreicht haben: Der Moment, in dem die Ärzte den Beatmungs-Tubus aus der Luftröhre entfernen können und der kleine Mensch alleine Luft holen kann. Ein Rezept, eine Regel, ein Protokoll dafür gibt es nicht - nur das Wissen und die Erfahrung der Ärzte. "Wenn's ein Rezept gäbe", sagt Jochen Peters, "könnt's der Pförtner auch."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2413863
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 28.03.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.