Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:Win-Win-Situation

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Samuel Flach, 27, hat den Verein Gemeinwohlwohnen gegründet. Das Ziel: ein selbstverwaltetes, inklusives Wohnprojekt in München realisieren.

Von Ornella Cosenza, München

Samuel Flach und María José Rodriguez Rivera sitzen im Wohnzimmer ihrer WG im Münchner Norden und machen Musik. María sitzt auf der Couch. Samuel im Rollstuhl. Die bunte Trommel hat er sich zwischen die Oberschenkel geklemmt. María stimmt die Gitarre ein. "Wir machen oft gemeinsam Musik", sagt Samuel, "manchmal auch ganze Jam-Sessions mit den anderen. Das verbindet uns. Es ist eine besondere Art von Kommunikation", sagt der 27-Jährige. María ist Opernsängerin, Samuel macht gerade seinen Master in Ethnologie an der LMU. Seit seinem 20 Lebensjahr ist Samuel nach einem Unfall querschnittsgelähmt. María ist nicht nur seine gute Freundin und Mitbewohnerin, sie hilft Samuel auch im Alltag - dafür kann sie günstig in der WG leben. Sie ist bei ihm angestellt. Abends hilft María Samuel zum Beispiel ins Bett. Wäre Samuel auf einen Pflegedienst einer großen Organisation angewiesen, könnte er nicht selbst entscheiden, wann er ins Bett geht. Mit María kann er sich besser absprechen - und den Alltag an seine und Marías Bedürfnisse anpassen. So, dass er möglichst selbstbestimmt leben kann.

Die Idee von einem selbstbestimmten Leben hat Samuel Flach vor einiger Zeit weitergedacht und sie hat mittlerweile konkrete Formen angenommen, nicht nur in seinem Privatleben. Im Sommer 2016 hat er zusammen mit weiteren Mitstreitern den gemeinnützigen Verein Gemeinwohlwohnen gegründet. Das Ziel: ein selbstverwaltetes, inklusives Wohnprojekt in München realisieren. "Das Wohnprojekt soll ungefähr bis zum Jahr 2021 in der Franziskaner Straße am Rosenheimer Platz entstehen und Wohnraum für zehn Personen bieten", sagt Samuel. Ein barrierefreies Café ist ebenfalls geplant.

Samuel und sein Team aus Ehrenamtlichen setzen sich für Toleranz, Selbstbestimmtheit und Chancengleichheit ein und gegen gesellschaftliche Probleme, wie Ausgrenzung und Diskriminierung. "Miteinander leben, voneinander lernen, übereinander hinauswachsen" - das ist der Leitspruch des Vereins. Samuel lebt in seiner WG diese Realität bereits und bald soll das für mehrere Menschen unter einem Dach möglich gemacht werden. In dem Wohnprojekt am Rosenheimer Platz sollen dann Menschen mit Behinderung, Geflüchtete, Geringverdiener und Studierende zusammen leben - und zwar zu fairen Mietpreisen. Dabei soll vor allem einer Sache entgegengesteuert werden: dem isolierten Wohnraum. "Das ist ja ganz oft so, dass die, die ,schwierig' sind, exkludiert werden", sagt Samuel, "Menschen mit Behinderung leben oft in Einrichtungen mit anderen Menschen mit Behinderung, Geflüchtete leben in Flüchtlingsheimen am Stadtrand. So kommt es doch ganz automatisch zur Isolierung. Ein Zusammenleben in der Gesellschaft kann so nicht aussehen und auch kein Austausch entstehen", sagt er. Das Wohnprojekt soll das ändern.

Und noch etwas liegt dem 27-Jährigen auf dem Herzen: "Es gibt tatsächlich Leute, die sagen, dass sie in ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis keine Menschen mit Behinderung haben. Aber diese Menschen machen acht Prozent der Bevölkerung aus in Deutschland", sagt er. Das soll sich ändern. Nur dann könne man sich auf Augenhöhe begegnen, Vorurteile abbauen und voneinander lernen. Das Besondere an dem Wohnprojekt ist außerdem, dass es von den Bewohnern selbst gestaltet, organisiert und verwaltet wird, ohne eine größere Institution, die darüber steht. Dadurch, dass die Pflege für die Bewohner mit Behinderung selbstorganisiert sein soll, werden wiederum Arbeitsplätze für weitere Mitbewohner und auch für externe, ausgebildete Pflegekräfte geschaffen. Das ist es, was Samuel als die "Win-Win-Situation" bezeichnet. Das Wohnprojekt soll zwar in ein paar Jahren realisiert sein, das bedeutet aber nicht, dass der Verein inaktiv ist. Im Gegenteil: Die Ehrenamtlichen leisten kontinuierlich Bildungsarbeit. Sie veranstalten Workshops, interkulturelle und inklusive Veranstaltungen, um mehr Bewusstsein in der Gesellschaft für Themen, die ihnen wichtig sind, zu schaffen. Derzeit werden übrigens ehrenamtliche Helfer gesucht, die mit anpacken möchten. Samuel und alle anderen, die sich in dem Verein engagieren sind auf Spenden angewiesen, denn die Vereinsarbeit kostet Geld. Konkret geht es dabei um Kosten für die Öffentlichkeitsarbeit, wie das Drucken von Flyern, die Organisation von Veranstaltungen, wofür Räume gemietet werden müssen, aber auch Reisekosten, die anfallen, wenn das Team mal in einer anderen Stadt Vorträge hält.

Auch María José Rodriguez Rivera engagiert sich ehrenamtlich bei dem Verein Gemeinwohlwohnen. "Ich finde es wichtig, alle Etiketten und Stereotypen abzulegen. Dann ist man nicht mehr nur der Flüchtling, der Behinderte, oder die Latina", sagt sie, und fügt hinzu: "wir sind einfach alle Menschen."

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Quelle:
SZ vom 17.12.2018
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