Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:Ohne Obdach in der Fremde

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Viele der Menschen, die in das "Schiller 25" kommen, haben schlimme Erfahrungen machen müssen. Die Beratungsstelle für wohnungslose Migranten leistet praktische Hilfe und versucht, ihnen neue Hoffnung zu geben

Von Ilona Gerdom, Ludwigsvorstadt

Ein schlanker Mann sitzt an einem der vier Tische im "Schiller 25". Er trägt ein graues Jackett mit Nadelstreifen, darunter einen dunkelgrünen Rollkragenpullover. Auf seinen Wangen zeichnet sich ein Drei-Tage-Bart ab. Er ist ein gepflegter Mann Anfang 50. Nichts an Ions Erscheinungsbild verrät, dass dieser Mann keine Wohnung hat, die er sein Zuhause nennen kann. Nicht einmal ein Zimmer. Deshalb ist er hier. Das Schiller 25 in der Ludwigsvorstadt ist ein Informationszentrum des Evangelischen Hilfswerks, in dem wohnungslose Migrantinnen und Migranten Unterstützung finden.

Gerade ist Ion im Beratungsgespräch mit einer Sozialpädagogin. In Wirklichkeit heißt er anders, möchte seinen wahren Namen aber nicht veröffentlicht sehen. Seine Geschichte möchte er trotzdem erzählen. Im Juli 2019 kam Ion aus Rumänien nach Deutschland. Seitdem hat er eine schlechte Erfahrung nach der anderen gemacht. Zuerst hat er in einem Schlachthof gearbeitet. Für seine Arbeit dort hat ihn bis heute niemand bezahlt. Danach war er bei einer Reinigungsfirma angestellt. Dort bekam er für drei Wochen Arbeit gerade einmal 203 Euro. Die Firma stellte eine Unterkunft, deren Zustand furchtbar war. Sogar Bettwanzen habe es gegeben. Ion gestikuliert viel, wenn er spricht, die Sozialpädagogin übersetzt: "Es war miserabel, man kann es nicht anders sagen." Ion beschließt, den Job aufzugeben. Im Münchner Umland hofft er, endlich eine gute Arbeit zu bekommen. Er beginnt bei einer Leiharbeitsfirma. In zwei Monaten verdient er knapp 600 Euro, dann wird er entlassen. Ohne offizielle Kündigung. Ion findet Unterschlupf im Keller eines Bekannten. Nach wenigen Tagen muss er gehen, da dort offiziell niemand wohnen darf. So landet Ion auf der Straße. Vier Tage verbringt er ohne Obdach. Durch einen Tipp findet er das Schiller 25. Seit Oktober kommt er einmal pro Woche hierher. Die Sozialpädagogin sagt, als Ion zum ersten Mal hier war, sei er unter Schock gestanden. Zunächst sei es darum gegangen, ihn zu stabilisieren. Sie kümmerte sich um einen Schlafplatz, um frische Kleidung.

Insgesamt elf Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen unterstützen im Schiller 25 Menschen wie Ion. Sie helfen bei der Jobsuche, bei der Anmeldung zum Deutschkurs, verteilen Lebensmittelgutscheine und kaufen Wochenkarten für die öffentlichen Verkehrsmittel. Im Infozentrum ist immer viel los. Dieser Tag ist keine Ausnahme. Überall werden Gespräche geführt. Am Nebentisch berät Sozialpädagogin Katalin Toth ihre Klientin Iren, eine kleine, schlanke Frau. Ihre Haare sind dunkelrot gefärbt und zu einem Bob geschnitten. Zum Friseur zu gehen, sei der einzige Luxus, den sich ihre Klientin erlaube, erklärt Toth. Iren besucht im Moment einen Deutschkurs. Trotzdem traut sich die 55-Jährige noch nicht recht, deutsch zu sprechen. Die beiden Frauen unterhalten sich die meiste Zeit auf Ungarisch.

Iren besucht das Schiller 25 regelmäßig. Sie hat ähnliche Erfahrungen gemacht wie Ion. Im Sommer habe sie in einer Pension gearbeitet. Jeden Tag von 10 Uhr morgens bis Mitternacht. Bezahlt wurde sie für acht Stunden am Tag. Die Zeit, in der sie nicht arbeitete, verbrachte sie auf der Straße. Im Schiller 25 fand sie Hilfe. Auch sie hat nun einen Schlafplatz. Leicht ist es dennoch nicht. Toth erklärt: "Als Wohnungslose ist die Organisation schwierig. Und auf der Straße zu leben, kostet sehr viel Geld." Ihre persönlichen Gegenstände kann Iren nicht an ihrem Schlafplatz lassen. Jeden Tag muss sie zwischen vier und sechs Euro allein für ein Schließfach am Bahnhof ausgeben. Wenn sie duschen oder Wäsche waschen will, ist sie auf Einrichtungen angewiesen, in denen sie nicht bezahlen muss. Dort muss sie zwei bis drei Stunden warten, bis sie an der Reihe ist. Aber was bleibt ihr schon anderes übrig? Sie zuckt die Schultern, Toth übersetzt: "Duschen und Klamotten waschen muss sein."

Viele der Menschen, die in das Schiller 25 kommen, teilen die Erfahrungen von Ion und Iren. Sie arbeiten viel, werden miserabel bezahlt. Milka Musovic, die stellvertretende Leiterin des Schiller 25, sagt: "Ich bezeichne das bewusst als moderne Sklavenarbeit. Denn das ist teilweise wirklich menschenunwürdig." Häufig wären die Menschen auf Teilzeit angestellt, die tatsächliche Arbeitszeit jedoch liege bei 60 bis 70 Stunden in der Woche. Musovic sagt: "Als Obdachloser ist es schon schwer, als obdachloser Ausländer noch schwerer." Denn viele dieser Menschen wissen sich nicht zu wehren. Sie können die Sprache nicht, haben weder Informationen zum Finanz- noch zum Gesundheitssystem. Hier setzen die Sozialpädagogen an. Sie informieren über die Perspektiven und leisten rechtlichen Beistand. Neben diesen Beratungen betreibt das Infozentrum Streetwork und das Haus 12 der Bayernkaserne. Dort können wohnungslose Menschen schlafen, die sonst nirgendwo hinkönnen. Diese Schlafplätze nutzen Iren und Ion - genau wie 400 andere Menschen.

Nicht nur Migranten nehmen das Beratungsangebot und die Bayernkaserne in Anspruch. Klienten sind laut Musovic auch deutsche Staatsbürger, Bettler, Personen mit Suchterkrankungen, "Menschen, die aus diversen Gründen durch das reguläre System rutschen". Die Sozialpädagogen begleiten ihre Klienten zu Terminen beim Arbeitsgericht oder beim Jobcenter. Außerdem besuchen sie regelmäßig die Bayernkaserne. Dafür haben sie ein Auto. Bald möchte das Schiller 25 allerdings auf einen E-Bus umsteigen. "Im Rahmen der Menschlichkeit wollen wir nicht nur auf Menschen, sondern auch auf die Umwelt achten", sagt Musovic. Zwar wird das Schiller 25 von der Stadt gefördert, doch das reicht bei Weitem nicht. Viele Dinge wie der E-Bus oder die Fahrkarten für Klienten werden durch Spenden finanziert, auf die das Schiller 25 dringend angewiesen ist.

Für Iren und Ion stellt das Schiller 25 mehr als eine Beratungsstelle dar. Hier spricht man ihre Sprache, hier haben sie Bezugspersonen gefunden, denen sie vertrauen können. Milka Musovic sagt: "Das Schiller 25 ist für viele die letzte Anlaufstelle. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es die Endstation ist." Iren und Ion hoffen, dass es das für sie nicht wird. Iren hat im Januar ihre ersten Deutschprüfungen. Sie ist die Beste im Kurs. Wenn sie besteht, will sie weiter Deutsch lernen. Ion fühlt sich mit seinen 53 Jahren noch jung und fit. Trotz der vielen schlechten Erfahrungen glaubt er fest daran, dass es bald besser wird. Ob das auch am Schiller 25 liege? Ions Blick wird weich. Er fasst sich mit der Hand ans Herz. Nickt aus voller Überzeugung. Dafür braucht es keine Übersetzung.

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Quelle:
SZ vom 11.12.2019
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