Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:Lernen, um zu leben

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Iren G. ist fast vollkommen blind, kümmert sich aber mit großer Hingabe um ihre Kinder. Der Alltag ist dennoch beschwerlich.

Von Berthold Neff, München

Wie das wohl ist, eine Sprache zu lernen? Vor allem dann, wenn man kaum noch etwas sieht und, um lesen zu können, zugleich die Blindenschrift Braille erlernen muss? Wenn Iren G. davon erzählt, schwingt eine gehörige Portion Stolz mit, denn sie hat es geschafft, hat - obwohl fast völlig blind - im vorigen Jahr die B1-Prüfung für Deutsch bestanden und absolviert nun die "Blindentechnische Grundreha", zu der sie jeden Morgen von ihrer kleinen Wohnung am Harras in die Innenstadt aufbricht. Die Lehrerin dort macht ihr Mut, denn sie ist völlig blind und kommt trotzdem gut zurecht im Leben.

Das will auch die heute 32-jährige Iren G. schaffen. Geboren wurde sie in Subotica, in der heute serbischen Provinz Vojvodina, in der die Ungarn immer noch die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Mit Ungarisch als Muttersprache wuchs sie auf, aber auch von Anfang an mit gesundheitlichen Problemen. Die Mutter war mit Zwillingen schwanger, dann kam es zur Notgeburt. Die Schwester überlebte nur einen Tag, Iren G. kam, mit einem Kilo Gewicht, in den Brutkasten. Die Augen waren von Anfang an schwach, die Brillengläser wurden immer dicker, und als eine Operation misslang, die ihr das Augenlicht retten sollte, blieb sie auf dem rechten Auge blind. Das linke Auge hat noch ein Sehvermögen von 0,5 Prozent.

2010, als sie ihren Mann kennenlernte und mit ihm nach Deutschland ging, sah sie noch etwas besser, ihre zwei Kinder kamen zur Welt. Martin und Luisa ( Namen geändert) sind heute elf und acht Jahre alt. Der Mann hat die Familie verlassen, er hatte Schulden auf ihren Namen aufgehäuft, unter anderem für ein Auto, das sie nie im Leben hätte fahren können. Nun läuft die Scheidung, das Verfahren zur Privatinsolvenz hat begonnen, danach wird sie aufatmen können. In der Ehe war das meist nicht so, sie war zu Hause mit den Kindern, hatte kaum Chancen, Deutsch zu lernen. Der Logopäde hatte ihr empfohlen, mit den Kindern Ungarisch zu sprechen, damit sie sich zumindest in einer Sprache gut zurechtfinden. Nun sagt ihr Lehrer, sie solle mit den Kindern Deutsch sprechen - und sie tut es, will es ja lernen.

Was das Kochen für die Kinder betrifft, kommt sie auch mit der extrem geringen Sehkraft zurecht. "Ich habe schon mit zwölf Jahren für die ganze Familie gekocht", erzählt Iren G. In der kleinen Wohnung fehlt es allerdings an vielem. Die Tischplatte in der kleinen Küche wackelt bedenklich, das Licht über dem Elektroherd ist viel zu schwach. Gäbe es dort eine Dunstabzugshaube mit starkem Licht, wäre das für sie eine große Hilfe. Die nächste Baustelle steht im Kinderzimmer an, dort wackelt das Hochbett bedenklich, die Kinder bräuchten extra Betten, aber das Geld dafür fehlt. Und demnächst wird Iren G. einen Laptop brauchen, der mit der Braille-Schrift zurechtkommt. Denn irgendwann will sie wieder arbeiten, am besten am Computer.

Die Kinder gehen derzeit in Förderschulen, machen aber gute Fortschritte, sind überraschend selbständig. Martin ist oft draußen, spielt Fußball mit den Buben aus der Nachbarschaft, meist als Torwart, Luisa liest und bastelt gerne. Vor allem aber helfen sie mit, damit die Mutter den Haushalt bewältigt, räumen ab, machen den Abwasch, gehen zum Einkaufen. Das wird auch ihre Mutter bald schaffen. Zwei Blindenstöcke hat sie schon, der Orientierungskurs beginnt demnächst.

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