Süddeutsche Zeitung

Straßenmusiker:Der Klang der Straße

Lesezeit: 5 min

Die Münchner kennen Ralph Kiefer als Klavierspieler auf öffentlichen Plätzen. Was andere Künstler jetzt gerade lernen, praktiziert er schon seit Längerem: die absolute Unabhängigkeit vom Musikbetrieb. Seine weltweite Fangemeinde genügt ihm

Von Martina Scherf

We will dance together again" lautet der Titel seiner neuen CD. Ja, das wünschen sich jetzt wohl alle: Dass dieser schleichende Wahnsinn endlich vorbei sein möge, dass man raus auf die Straße rennen, Freunden, Nachbarn, Verwandten in die Arme fallen und gemeinsam vor Freude tanzen darf. Es wird noch eine Weile dauern, bis es soweit ist. Ralph Kiefer lebt als Straßenkünstler vom spontanen Kontakt mit den Menschen. Er könnte jetzt verzweifeln. Stattdessen hat er die Krise in Energie verwandelt.

"Die ersten Tage nach der Ausgangssperre spürte auch ich Panikgefühle in mir aufsteigen", sagt er. Konzerte, weder draußen noch drinnen, sind nicht möglich, auch seinen Klavierschülern musste er notgedrungen absagen. Wie sollte er in den kommenden Monaten seine Familie ernähren? Wann würde es weiter gehen? Diese Fragen begannen in ihm zu bohren.

Aber nicht lange. Dann begann er zu spielen, "und plötzlich spürte ich eine ganz besondere Energie". Eine Energie, die sich auf andere übertrug. Gleich gegenüber seiner Wohnung, in der Haidhausener Kirchenstraße, gibt es das Café Herzwerk mit Friseursalon. Beides steht jetzt still, und Markus Lindner, der das Café betreibt, sagte: "Du kannst unser Klavier nutzen."

So begann Kiefer, 46, dort ganz allein Livestreams aufzunehmen, mit Laptop, Kamera und hochwertigen Mikrofonen. Die schickte er in die Welt. Die Resonanz war groß, sie spornte ihn an. "Zwei Jahre habe ich an einer neuen CD herumlaboriert. Und jetzt, im Livestream, ist sie einfach so aus mir herausgeflossen." Auch an diesem Donnerstagnachmittag sitzt er im Café, vielleicht wird er heute noch etwas aufnehmen. Einen festen Zeitplan fürs Streaming will er sich nicht geben. Seine Fans erfahren es auf Instagram, das genügt. Was andere Musiker jetzt entdecken, macht er schon längst: sich unabhängig von Agenten, Bühnen, Spotify zu machen. Kiefer macht alles selbst. Er ist nicht nur Musiker und Komponist, er ist auch sein eigener Manager, Toningenieur, Arrangeur, Marketingmann und Roadie. Seine Musik lädt er bei Bandcamp hoch, "da gibt es wenigstens etwas Geld dafür". Er spielt nicht nur Klavier, manchmal greift er auch zur Gitarre oder zu verschiedensten Schlaginstrumenten. Dann nimmt er die einzelnen Partien jeweils separat auf und mischt am Ende alles ab.

Weil er seit drei Jahren mehrmals die Woche auf Münchens Straßen spielt, hat er eine große Fangemeinde. Viele sind Touristen, sie bleiben lange stehen, hören andächtig zu oder fangen an, sich im Takt der Musik zu bewegen. Sie kaufen CDs, filmen, und manche schreiben dem Musiker später auf Instagram oder Facebook. Einige sind selbst Musiker oder andere Künstler, sie schicken Ideen, Worte, Kalligrafien oder Songs, die er dann verarbeitet. "Seit ich auf der Straße spiele, habe ich Freunde auf der ganzen Welt", sagt er. Das trägt ihn.

In Münchens Altstadt ist er längst ein Markenzeichen. Er hat auf dem Stadtgeburtstag gespielt, und an lauen Sommerabenden dauert es nicht lange, bis sich eine Menschentraube um ihn herum bildet. Seinem Klavier hat er ein Fußpedal hinzugefügt, wie für eine Basstrommel, das Klavier ist der Resonanzboden. Auch ein kleines Becken bedient er noch nebenbei. Das Instrument steht auf einem Perserteppich, er spielt grundsätzlich barfuß, ein Sonnenschirm mit Bommeln schützend über sich. Rund herum stehen am Abend Kerzen. Es ist eine andächtige Atmosphäre. Neben den Stapel mit CDs stellt er sein Schild mit dem Instagram-Account und dem Paypal-Konto. Wenn er genug hat, packt er alles zusammen, und rollt das Instrument auf Rädern wieder zurück in seinen Lagerraum unweit der Fußgängerzone. Er konnte davon leben, sagt er.

Kiefers Musik ist oft improvisiert, auf jeden Fall selbst komponiert. Sie oszilliert zwischen Klassik und Jazz, rieselt mal wie ein Bächlein über Kieselsteine, perlt wie Regentropfen in einen stillen See oder reißt einen plötzlich wie ein mächtiger Strom dahin. Nicht selten entsteht sie im Dialog mit dem Publikum. Da ist eine junge Frau, die anfängt, sich zu den Arpeggien, die aus dem Klavier kullern, zu bewegen. Und Kiefer dehnt die Klänge aus, er variiert sie ein ums andere Mal, er schaut nicht mehr auf die Tasten, sondern auf die Frau, es ist ein Zwiegespräch, ganz aus dem Moment entstanden.

Solche Momente bedeuten Freiheit für ihn, sagt Kiefer. Er wollte nie etwas anderes als eigene Musik zu machen. Nach dem Abitur kam er nach München, studierte Jazzmusik bei dem Russen Leonid Chizhik. Er hatte eine eigene Band, spielte auf Firmenevents und Hochzeiten, gab Trommelworkshops und Klavierunterricht. Bis er die täglichen Kompromisse irgendwann satt hatte. Da verlagerte er seine Künstlerexistenz weitgehend auf die Straße.

Leicht machte es ihm die Stadt nicht. Straßenmusiker müssen jeden Morgen für eine Tageserlaubnis für zehn Euro im Rathaus anstehen, "eine entwürdigende Prozedur", sagt Kiefer. Die Konkurrenz ist groß, "Profimusiker aus ganz Osteuropa kommen im Sommer nach München." Viele lagern schon um drei Uhr in der Früh mit Schlafsack vor der Tür, um dann um acht, wenn das Büro öffnet, die ersten zu sein. Sie dürfen dann nur maximal eine Stunde am selben Ort spielen. Dann musste Kiefer sein Klavier jedes Mal woanders hin rollen. Und noch ein Hindernis hatten sich die Bürokraten für ihn ausgedacht: Klavier ist erlaubt, Schlagzeug nicht - Kiefer dürfte also streng genommen überhaupt nicht mehr spielen, wegen der Fußtrommel an seinem Instrument. Daher spielte er zuletzt fast nur noch auf privatem Grund, unter den Arkaden von Hirmer oder Konen, wo er gern gesehen ist. Auch im vergangenen Winter, der so warm war, dass er einfach weitermachte - bis Corona kam.

Künstler seien es gewohnt, mit wenig auszukommen, sagt er. "Materielles war mir noch nie besonders wichtig." Jetzt sei die Chance für alle Menschen, innezuhalten und sich zu prüfen: "Führe ich das Leben, das ich will? Vielleicht bin ich im Büro gut aufgehoben, vielleicht würde ich aber lieber mit Kindern arbeiten? Bin ich gewohnt, zu nehmen, oder könnte ich meinen Nachbarn auch öfter etwas geben?"

Seit das Hamsterrad gewaltsam gestoppt wurde, sagt er, spüre er, wie die Menschen mit einer anderen Haltung durch die Stadt gehen. "Ich erlebe mehr Blickkontakte, als wollten die Leute ausloten: Wie ist der andere drauf?" Die allgemeine Unsicherheit verbinde die Menschen, "und wer jetzt den Mut hat, auf andere zuzugehen, der bekommt sehr viel Resonanz zurück". Es sei vielen längst klar, "dass unsere Art zu leben und zu wirtschaften nicht zukunftsfähig war". Klima, Umwelt, soziales Miteinander - "wir brauchen ein Umdenken, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt dafür."

Beim ein oder anderen führe das Innehalten vielleicht auch dazu, "dass sie gnädiger werden mit sich selbst oder anderen". Solche Gedanken kommen ihm jetzt fast jeden Tag. "Perdonare - Forgiveness" hat er ein Stück auf seiner CD genannt. Der Titel entstand im virtuellen Zwiegespräch mit einer Zuhörerin. Ein anderer Titel kam nur deshalb zustande, weil ein Tourist ihn bei einer Improvisation aufgenommen und ihm später die Aufnahme geschickt hatte. "Da erinnerte ich mich und habe das Stück noch einmal aufgenommen."

Die Fans schreiben ihm auf Englisch, Italienisch, Arabisch oder Russisch. Sie drehen kleine Filmchen - ein chinesischer Fan hat sein Video auf Tiktok hochgeladen, fünf Millionen Klicks. Es kommen Grüße aus Mexiko City und Dublin, aus Shanghai und Marrakesch, aus Rio oder Istanbul. Und manche überweisen ihm dann tatsächlich auch etwas auf sein Konto für seine Musik.

"Wir werden uns wieder treffen auf der Straße", antwortet ihnen Ralph Kiefer per Video. "Dann wird es Sommer sein, und die Menschen werden die neue Freiheit viel bewusster wahrnehmen. Dann werden wir zusammen tanzen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4883167
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 21.04.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.