Süddeutsche Zeitung

Tagebuchaufzeichnungen:Klassenfahrt in die DDR

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In der neuen Ausgabe der "Starnberger Hefte" schildert Herausgeber Ernst Quester die Begebenheiten bei einem Ausflug mit Gymnasiasten im Jahr 1984. Dabei muss er einen krassen Irrtum zugeben.

Von Katja Sebald, Starnberg

Der Advent ist auch eine Zeit der Merkwürdigkeiten. Zu diesen gehört die Kombination von süßem Glühwein mit deftiger Bratwurst ebenso wie die Kombination von Besinnlichkeit mit einer wenig besinnlichen Dichte von Veranstaltungen. Im Reigen der vielen vorweihnachtlichen Termine taucht in dieser Woche auch die Präsentation der 32. Ausgabe der Starnberger Hefte auf, die an diesem Donnerstag im evangelischen Gemeindesaal stattfindet. Das musikalische Rahmenprogramm könnte an diesem Abend für Besinnlichkeit sorgen. Das Motto des aktuellen Hefts jedoch ist an Merkwürdigkeit kaum zu überbieten: Es lautet "schreiben reisen Dekopuppen".

Die Sache mit den "Dekopuppen" ist relativ schnell erklärt, denn das Titelbild zeigt eine Schaufensterpuppe, die Julian Schmidt 2012 in London fotografierte, und einer der im Heft abgedruckten Texte, verfasst von Maria Grünberger, handelt "Vom Leben, Lieben und Leiden einer Schaufensterpuppe". Schwieriger wird es mit der Wortfolge "schreiben" und "reisen", bei der man irrtümlich annehmen könnte, das erste fände vor dem zweiten statt.

Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall: Ernst Quester, bisher als Herausgeber der Literaturzeitschrift mit eigenen Texten sehr zurückhaltend, beansprucht in der aktuellen Ausgabe fast die Hälfte des Hefts für seine Tagebuchaufzeichnungen von einer Reise mit Schülern des Starnberger Gymnasiums in die DDR im Jahr 1984. Nachdem ihm seine ehemalige Lehrerkollegin und damalige Initiatorin der Kollegstufenfahrt Hilde Brand überraschend zwei Kästen mit ihren Dias überlassen hatte, "drängte" auch sein eigenes Reisetagebuch "ans Licht der Öffentlichkeit", bekennt er nun im Vorwort zum Heft.

Der Autor glaubt: "Diese Staaten werden nicht mehr wiedervereinigt."

Quester hat seinen Text mit "Keine Mitbringsel" überschrieben. Er zeige, "welche Erkenntnismöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler, besonders aber für die Unterrichtenden, ein ,fliegendes Klassenzimmer' mit seinen vielfältigen Perspektiven und Kontakten bietet", so der Autor selbst, "Bis zur Hellseherei reichten diese Einsichten allerdings nicht". Bei der Suche nach seinen Aufzeichnungen von damals sei er auch auf eine Notiz gestoßen, die er auf einem Schmierzettel nach der Reise gemacht hatte: "diese Staaten werden nicht mehr wiedervereinigt; krasse Unterschiede - geht nicht mehr zusammen ... bei den Jugendlichen sind die Unterschiede nicht so stark ...".

Zu den Unterschieden bei den Jugendlichen der beiden deutschen Staaten gehörte damals beispielsweise die Tatsache, dass die Punks aus dem Osten bei einer Polizeikontrolle ohne Umschweife verhaftet und im Auto weggebracht wurden, weil sie sich auf der Straße mit den Jugendlichen aus dem Westen - Zitat Quester: "schwarze Lederjacken, ein rotes Halstuch, kunstvoll verwirrte Haare, ein filziger grauer Mantel mit aufgestelltem Kragen" - unterhalten hatten. Die Ostpolizisten hatten die wilden Westgäste sehr höflich mit "Bitte, meine Herren" angesprochen und sich nur kurz die Westpässe zeigen lassen.

Die Fotos stammen von der ehemaligen Lehrerin Hilde Brand

Wie eine solche DDR-Reise mit den staatlich verordneten und als "Reiseleitern" getarnten Aufpassern abgelaufen ist, das wird ohnehin nur glauben, wer sie selbst erlebt hat. Dass das Ganze noch nicht einmal vierzig Jahre her ist, erscheint kaum vorstellbar. Dass vierzig Jahre aber doch eine lange Zeit sind, dürfte manchem Starnberger und mancher Starnbergerin schlagartig bewusst werden, wenn er oder sie sich auf einem der Fotos ihrer ehemaligen Lehrerin Hilde Brand erkennt.

Die Nummer 32 der "Starnberger Hefte" wird an diesem Donnerstag um 19 Uhr im Evangelischen Gemeindesaal an der Kaiser-Wilhelm-Straße 18 in Starnberg vorgestellt. Zur musikalischen Umrahmung spielen Cornelia Lee-Winser (Violine) und ihr Ehemann Gary (Violoncello). Der Eintritt ist frei.

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