Süddeutsche Zeitung

Aus Protest gegen die WM in Katar:Künstler verpflanzt Stadionrasen in alten Bahnhof

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Axel Wagner hat 15 Quadratmeter Grün aus der Allianz-Arena in die Wartehalle des Schondorfer Bahnhofs verschleppt - genauso deplatziert wie ein Fußballturnier in der Wüste, findet er.

Von Katja Sebald, Schondorf

Über die Aura von originalen Kunstwerken ist viel geschrieben worden, über die Aura eines Rasenstücks aus der Allianz-Arena hat sich bislang noch niemand Gedanken gemacht. Für den Greifenberger Künstler Axel Wagner war es dennoch ganz wichtig, dass die 15 Quadratmeter Fußballrasen, die er in der Wartehalle des Schondorfer Bahnhofs ausgelegt hat, echt sind. Und eine Gruppe halbwüchsiger Fahrschüler kniet nun tatsächlich ehrfürchtig nieder, um die Grashalme zu berühren, über die in der vergangenen Saison ihre Idole Thomas Müller und Manuel Neuer gelaufen sind. "Stadion" heißt die Installation, die Wagners künstlerischer Kommentar zur Fußball-Weltmeisterschaft ist.

Dieser kam so zustande: Nach dem NFL-Spiel in der Allianz-Arena im November musste der Rasen ausgewechselt werden. Wagner konnte 15 Quadratmeter ergattern, die von den Footballspielern nicht völlig zertrampelt worden waren. Aufgerollt in mehreren Bahnen kamen sie in Schondorf an. Etwa ein Viertel des Wartesaals ist nun mit diesem Fußballgrün samt Grasnarbe bedeckt. Die weiße Randmarkierung und die Eckfahne wurden erst nachträglich angebracht. Eine Wandlampe hat Wagner zum fliegenden Fußball umfunktioniert. Aus einem Lautsprecher tönt lautes Stadiongebrüll, sobald jemand die Wartehalle betritt. In einem Schaukasten, in dem früher Fahrpläne hingen, ist jetzt stellvertretend für Tausende andere eine Liste mit den Namen von 15 Arbeitern zu sehen, die während des Stadionbaus in Katar zu Tode gekommen sind.

Etwas liegt dort, wo es nicht hingehört: eine Analogie zur WM in Katar

Er habe das Stück Stadion ganz bewusst deplatziert, erläutert Wagner. Es befinde sich nun an einem Ort, an den es nicht gehört und an den es nicht passt. "Damit möchte ich einen kritischen Beitrag zur aktuellen WM in Katar leisten." Auch die Fußball-Weltmeisterschaft werde derzeit an einem Ort ausgetragen, an den sie nicht hingehöre. Er selbst habe sich noch nicht entschieden, ob er sich die weiteren Spiele der deutschen Mannschaft im Fernsehen ansehen werde, sagt er, aber: "Hier ist ein guter Ort, um sich darüber Gedanken zu machen." Grundsätzlich sei Fußball aber für ihn etwas Verbindendes, er wolle deshalb mit seiner Arbeit auch zu Toleranz aufrufen.

Im Schondorfer Bahnhof prallt nun die Aura des penibel gepflegten sattgrünen Rasenteppichs, der unbeeindruckt von seiner Entrückung weiterwächst, auf die ebenfalls aufgeladene Aura des Wartesaals, in dem sich nicht nur Zigarettenqualm und Körperausdünstungen von Jahrzehnten festgesetzt haben, sondern auch unzählige Abschiede und geduldig abgesessene Verspätungen in der Luft hängen. Vor dem geistigen Auge des Besuchers dehnt sich die Weite des Fußballfelds ins beinahe Unendliche aus, die marode Wand, ein Heizkörper und ein Papierkorb holen ihn auf den in die Jahre gekommenen braunen Fliesenboden der Tatsachen zurück.

Zwei zwar bekannte Situationen, die jedoch überhaupt nicht zusammenpassen, vermischen sich hier: Die daraus entstehende Irritation wird von Wagner bewusst herbeigeführt. Er bevorzuge in seiner künstlerischen Arbeit einfache Interventionen, die klare Bilder schaffen, erläutert er. Die Arbeit "Stadion" habe für ihn rein ästhetische, aber auch gesellschaftskritische Aspekte. Und nicht zuletzt fordert sie von den Zugreisenden, die sich im Wartesaal einfach nur aufwärmen wollen, wie auch von den kunstinteressierten Besuchern eine gewisse Toleranz: Denn wenn sich über einen Bewegungsmelder die Soundschleife mit dem Stadiongetöse einschaltet, sind keine Gespräche mehr möglich.

Die Installation "Stadion" ist noch bis zum WM-Finale am 18. Dezember zu sehen, während der Öffnungszeiten der Wartehalle täglich von 7 bis 15 Uhr und in der übrigen Zeit durch die Fenster. Wer sich die Aura des Originalrasens nach Hause holen will, kann einen Quadratmeter für 50 Euro erwerben. Axel Wagner spendet den Erlös an eine Organisation, die sich gegen Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen einsetzt.

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