Süddeutsche Zeitung

Pähl:Das Schloss der Frauen

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Marie Ilka von Wrede hat auf dem Familienbesitz in Pähl ein Entbindungsheim eröffnet. Die Hebamme war eine weltoffene, mutige Frau, die nicht nur viele Kinder auf die Welt holte, sondern in Not geratene Frauen auch kostenlos behandelte. 1966 wird sie zur Ehrenbürgerin Pähls ernannt

Von Astrid Becker, Pähl

Wenn Fürst Carl Friedrich von Wrede über seine Tante spricht, dann sagt er gern: "Sie war ein Dragoner." Despektierlich ist dies aber nicht gemeint, vielmehr benützt er diesen Ausdruck nur, um eine Frau äußerlich wie wohl auch mental zu beschreiben, die aus der Ortsgeschichte Pähls kaum wegzudenken ist. Denn viele der Einheimischen verdanken ihr ihr Leben. Marie Ilka von Wrede war Hebamme und hatte im Unteren Schloss gelebt, wo sie jahrzehntelang ein Entbindungsheim betrieb.

Auch Leonhard Bartl, der Vorsitzende des Freundeskreises Ortsgeschichte, ist dort zur Welt gekommen - wie seine sechs Geschwister und etwa 4000 andere Menschen, die nicht nur aus der Gemeinde selbst stammen, sondern deren Mütter sogar aus dem hohen Norden anreisten, um sich von der Fürstin helfen zu lassen. Doch was war das für eine Frau?

Marie Ilka von Wrede wurde am 14. September 1890 auf dem Stammsitz ihrer Familie in Ellingen geboren. Als Schwester des Roten Kreuzes hilft sie im Ersten Weltkrieg vielen verwundeten Soldaten, vor allem bei Bauchverletzungen, und folgt damit bereits einer zumindest weiblichen Familientradition. Schon ihre Großmutter, durch die das Untere Schloss überhaupt in die Familie Wrede kam, wurde durch ihre Sanitätsdienste im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 berühmt und erhielt dafür viele bayerische und preußische Auszeichnungen. Nach ihr wurde auch die "Ilkahöhe" benannt, der frühere Parzenbichl, der zur Gemeinde Tutzing gehört. Sie war eine geborene Gräfin von Vieregg, der Familie, der das Pähler Schlösschen gehörte, und erbte es von ihrem Bruder. Zu dieser Zeit, 1866, war sie bereits seit zehn Jahren mit Carl Friedrich, dem dritten Fürsten von Wrede verheiratet.

Als ihre Enkelin Marie Ilka aus dem Krieg zurück kam, stand für diese fest, auch weiterhin in der Gesundheitspflege arbeiten zu wollen. Zunächst wollte sie sich in Pähl als Landeskrankenpflegerin niederlassen. Doch als die frühere Hebamme des Ortes, im "Weilheimer Tagblatt" vom 31. Oktober 1944 anlässlich des 25. Dienstjubiläums der Fürstin in der Rückschau als "Frau Eichberger" bezeichnet, ihrer Tätigkeit nicht mehr nachkommen konnte, bat die Gemeinde die Fürstin Wrede, dies für den ganzen Bezirk Weilheim zu übernehmen. Dem ersten Kind auf die Welt half sie bereits 1919 - und wenn man sich Bilder von ihr ansieht oder Geschichten über sie hört, wird einem schnell klar, warum ihr Neffe Carl Friedrich von einem "Dragoner" spricht. Klein, aber von kräftiger Statur ist sie gewesen und offenbar auch recht eigenwillig, mutig und stark. Denn sie lässt sich weder von Wind, Wetter oder politischen Brisen von ihrem eisernen Willen abhalten, Frauen zu helfen - auch denjenigen, die unverschuldet in Not geraten sind.

1926 eröffnet Fürstin Marie auf dem Familienbesitz in Pähl zunächst ein Schwesternerholungsheim im ehemaligen Gärtnerhaus. Nur vier Jahre später kamen die ersten Frauen zur Fürstin, um ihr Kind auf die Welt zu bringen. Aus dem Erholungsheim ist dann, von 1937 an, ein Entbindungsheim geworden. Dennoch spannt Fürstin Marie immer wieder die Pferdekutsche an und fährt damit zu den gebärenden Frauen in der Umgebung. Zwölf Gemeinden gehörten in ihr Einzugsgebiet: "Das hat sie auch im tiefsten Winter gemacht, ganz allein als Frau mitten in der Nacht, bis nach Machtlfing" - daran kann sich Leonhard Bartl erinnern. Später fuhr sie mit dem Auto. Doch später wurde ohnehin vieles ganz anders, und die Rolle, die Fürstin Wrede einnahm, veränderte sich damit auch zunehmend. Denn Marie Ilka von Wrede muss eine sehr weltoffene Frau gewesen sein, die stets die Türen geöffnet hielt für Menschen, die ihrer Hilfe bedurften. In mehreren Quellen im Archiv der Gemeinde wird sie als lebensbejahende und wettergebräunte Frau beschrieben, die jedoch auch ihren buchstäblichen Mann stehen konnte. Eines Tages soll sie beispielsweise zu einem volltrunkenen Mann gerufen worden sein, der mit einer Axt im Haus wütete und seine Familie bedrohte. Fürstin Marie entwand ihm das gefährliche Werkzeug, und es gelang ihr, den Mann zu beruhigen. Wie lebensbejahend, hilfsbereit, aber auch bescheiden sie war und welch angenehme Atmosphäre in ihrem Haus herrschte, geht unter anderem auch aus einem Artikel hervor, den die NS-Frauenschaft über einen Besuch bei ihr geschrieben hat - es liegt aber wohl auch nahe, dass die Nationalsozialisten im Dritten Reich besonders angetan von ihrer Tätigkeit gewesen sein müssen. Vielleicht ein Grund, warum über diese Frau im Internet weniger zu finden ist als über ihre Großmutter.

Politisch taucht sie im Archiv der Gemeinde allerdings wenig auf, ihr Entbindungs- und Kinderheim jedoch in diesem Kontext weitaus mehr. Als kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs die Gemeinde Pähl von den Nazis zu einem "strategisch wichtigen Punkt" ernannt wird, ließ der damalige Bürgermeister Josef Heumos aber Verteidigungsanlagen abbauen. Er fürchtete offenbar, und wohl auch zu Recht, dass sein Dorf von den Amerikanern komplett zerstört würde, werde es nicht kampflos übergeben. Den zuständigen Oberleutnant der Nazis, mit dem er sich deswegen heftig stritt, konnte er angeblich nur durch den Hinweis auf die rund 100 Mütter, Säuglinge und Kleinkinder überzeugen, die bei Marie von Wrede untergebracht seien. So soll es Heumos immer wieder erzählt haben (Geschichte und Geschichten Nr. 4, Juni 2015 des Freundeskreises Ortsgeschichte Pähl-Fischen). Als dennoch die Bombardierung des Ortes bevorstand, konnten er und Leutnant Eberhard von Machui den amerikanischen Kommandanten von einer Beschießung abhalten, in dem er unter anderem ebenfalls wieder auf besagtes Heim von Fürstin Wrede hinwies, mit deren Auto die Beiden sogar zu dem Gespräch in Fischen gefahren sein sollen.

Für die weibliche Welt spielten von Wrede und ihr Unteres Schloss eine weitaus größere Rolle. Denn bei der Fürstin wurden auch ledige Mütter aufgenommen und betreut. Sie konnten sogar bei ihr wohnen, teilweise in Räumen des Unteren Schlosses. Noch heute erzählt man sich in Pähl von den Amerikanern, die immer wieder im Ort aufgetaucht seien, um ihre Geburtsstätte zu besuchen. Tragische Szenen hätten sich da abgespielt, heißt es. Denn bei der Fürstin seien auch viele Besatzungskinder auf die Welt gekommen, die später zur Adoption in Amerika freigegeben worden seien, erzählt man sich. Zum Beispiel sei plötzlich ein etwa 60-jähriger Amerikaner vor seiner etwa 80-ährigen Mutter in Pähl gestanden: "Die Frau war völlig durcheinander", sagt eine Pählerin. Leonhard Bartl kennt diese Geschichte so nicht, er weiß aber auch von den vielen Amerikanern, die seinen Ort aufgesucht haben und dies offenbar immer noch tun.

Fürstin Marie Ilka von Wrede stand aber auch noch aus einem anderen Grund hoch im Kurs. Sie habe viele der Frauen kostenlos behandelt, vor allem in der schweren Nachkriegszeit, auch das erzählt man sich noch heute im Ort. Auch Carl Friedrich von Wrede kann sich daran sehr gut erinnern: "Mein Vater und dann später auch ich haben sie ja immer wieder finanziell unterstützt, damit sie weitermachen konnte. Sie war sehr wohltätig, daher rechnete sich das alles nie so recht." Nicht immer wurde diese Großzügigkeit gedankt - zum Beispiel am 27. September 1952, als ein Großfeuer das Anwesen fast vernichtet hätte.

Ein "Gast" von Wrede, eine 18-jährige Penzbergerin, hatte den Brand später gestanden. Warum sie ihn gelegt hatte, blieb zunächst unklar. Später hieß es, die junge Frau habe aus Liebeskummer gezündelt. Die Fürstin schaltet gleich mehrere Danksagungsanzeigen in den Zeitungen und spricht darin von der "beispiellos aufopfernden, vorbildlichen Hilfsbereitschaft", die ihr entgegengeschlagen sei und die "über jedes Lob erhaben war". Die Schäden werden beseitigt, und das Heim kann bis etwa 1970 weiter bestehen. Die Fürstin wurde 1966 zur Ehrenbürgerin der Gemeinde Pähl ernannt und erhielt im selben Jahr das Bundesverdienstkreuz am Bande. Sie starb am 28. Juni 1974.

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Quelle:
SZ vom 09.09.2015
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