Süddeutsche Zeitung

Prozess in München:Mann steht wegen sexuellen Missbrauchs in 761 Fällen vor Gericht

Lesezeit: 3 min

Von Andreas Salch

Seine Kindheit und Jugend verbrachte Winfried S. in verschiedenen Heimen. Kurz nach der Geburt hatten ihn seine Eltern vor einer Klinik ausgesetzt. Das war Mitte der 1960er-Jahre. Bis zu seinem Hauptschulabschluss war Winfried S. in einem Heim für "Schwererziehbare" untergebracht. "Ich habe Sachen gesehen, in meiner Heimzeit, die mag ich nicht sagen", sagt der 56-Jährige.

Er und die anderen Jungen seien sexuell missbraucht worden. Er selbst "fast jeden Tag mehrmals", drei Jahre lang. Die Täter seien Erzieher und ein "angehender Pfarrer" gewesen. Der Priester habe ihn und die anderen Jungen "in den Arm genommen und gestreichelt" aber auch dazu animiert, Sex miteinander zu haben. Winfried S. ist jedoch nicht nur Opfer.

Die Staatsanwaltschaft am Landgericht München II wirft ihm vor auch Täter zu sein. 15 Jahre lang soll der 56-jährige gelernte Koch den Ermittlungen zufolge seine zwei Stiefenkel und deren beiden Freunde sexuell schwer missbraucht haben.

An diesem Mittwoch hat der Prozess gegen S. vor dem Landgericht begonnen. Die Zahl der Taten, von denen Staatsanwalt Matthias Braumandl ausgeht, klingt ungeheuerlich. Es geht um 761 Fälle. Die Verlesung der Anklage ist nur schwer zu ertragen. Sie listet minutiös und detailliert auf, von wann an und wie sich S. an den Kindern vergangen haben soll.

2006 soll er damit begonnen haben, einen seiner Stiefenkel zu missbrauchen. Der Bub war damals gerade vier, fünf Jahre alt. Zu den Übergriffen soll es in dem Haus des 56-Jährigen in einer kleinen Gemeinde im westlichen Landkreis Starnberg gekommen sein. Aber auch in einem Waldstück in der Nähe eines Sees, an einem Jägerstand, ein andermal beim Schwimmen und sogar in einer Kirche im Landkreis Starnberg. Als S. gehört habe, dass die Kirchentüre knarzte und jemand die Kirche betritt, habe er von seinem Stiefenkel abgelassen, heißt es in der Anklage der Staatsanwaltschaft.

Winfried S. soll die Kinder, die er sexuell missbraucht hat, auch eingeschüchtert und bedrängt haben, wenn sie sich gegen seine Annäherungen zur Wehr setzten. Seinem Stiefenkel etwa soll er in solchen Fällen damit gedroht haben, er werde ihm sein Lieblingskuscheltier wegnehmen, ihn für zwei Tage in sein Zimmer einsperren oder seiner Mutter wehtun.

Die Anklage umfasst nicht weniger als neun Seiten. Staatsanwalt Braumandl benötigt eine halbe Stunde zur Verlesung. Winfried S. sitzt währendessen mit gesenktem Kopf auf der Anklagebank. Die meiste Zeit völlig regungslos. Nur manchmal richtet er den Blick nach vorne und schüttelt den Kopf. Der 56-Jährige trägt einen weißen Mundschutz. Nicht nur wegen des Coronavirus.

Winfried S., so sagt seine Verteidigerin Anja Kollmann, sei ein Hochrisikopatient. Der Koch soll zahlreiche Vorerkrankungen haben. Seine Verteidigerin gibt zu bedenken, ob ihr Mandant überhaupt verhandlungsfähig sei. Dessen Erinnerungsvermögen sei getrübt. Achtmal habe sie S. vor dem Prozess in der Untersuchungshaft besucht, so Kollmann. Drei- bis viermal habe der Angeklagte sie nicht erkannt.

Und die Anwälte der Opfer, die als Nebenkläger in dem Prozess auftreten, weisen darauf hin, dass ihre Mandanten sich wegen der Taten, die Winfried S. an ihnen begangen haben soll, in einer "suizidalen Situation" befinden. Eine Einvernahme vor Gericht sei für sie "mit erheblichen Belastungen verbunden". Das Gericht, so die Bitte der Nebenklagevertreter, solle deshalb entsprechende Maßnahmen treffen. Denkbar wäre eine Vernehmung der mutmaßlichen Opfer per Video.

Als Richter Martin Hofmann Winfried S. fragt, wie es ihm gehe, hebt der 56-Jährige seine rechte Hand und bewegt sie von links nach rechts. Heißt: geht so. Vor seiner Vernehmung bittet S. um eine kurze Pause. Ein Arzt der Justizvollzugsanstalt verabreicht ihm ein Milligramm Tavor, ein beruhigendes und angstlösendes Präparat.

Dann beginnt der 56-Jährige zu erzählen. Über seine Zeit in den verschiedenen Heimen. Die Schilderungen sind erstaunlich detailliert. Auf die Vorwürfe aus der Anklage geht Winfried S. auch ein. "Ich hasse Gewalt", sagt er einmal und fügt hinzu: "Ich habe die Kinder nie geschlagen und nie zu etwas gezwungen." Was ihm die Staatsanwaltschaft vorwerfe, sei "frei erfunden". Alles, was man ihm zur Last lege, sei ihm im Heim für "Schwererziehbare" widerfahren. Dass ihn ein Pfarrer in den Arm genommen habe, sei für ihn "in der damaligen Zeit was ganz normales" gewesen. Der Prozess dauert an.

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SZ vom 26.03.2020
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