Süddeutsche Zeitung

Berg am Starnberger See:Zum Zähne richten nach Gambia

Lesezeit: 4 min

Die Ärztin Nicole Gsell ist für einen humanitären Einsatz nach Afrika gereist. Dort fehlt vielen Menschen das Geld für eine medizinische Behandlung. Mit deutschen "Katastrophen" geht die 54-Jährige seither gelassener um.

Von Carolin Fries, Berg

Nicole Gsell sagt, sie habe den Ärmsten der Armen helfen wollen. Deshalb ist sie im Januar für knapp drei Wochen zu einem humanitären Einsatz nach Gambia gereist. Als Zahnärztin habe sie schließlich einen Beruf, mit dem das möglich ist: überall auf der Welt helfen zu können.

Etwa 50 Patienten hat sie in dem kleinen Land in Westafrika behandelt, Zähne gezogen, Zahnstein und Karies entfernt, Füllungen eingesetzt. Emotional ist sie dabei immer mal wieder an ihre Grenzen gestoßen. "Weil ich das Gefühl hatte, nicht genug tun zu können", sagt sie. Auch, wenn sie mitunter bis abends um halb zehn behandelt hat. Jetzt ist sie zurück - und will bald wieder losziehen.

In Gambia gibt es etwa zehn Zahnärzte für die insgesamt rund 1,3 Millionen Einwohner des Landes, erklärt die 54-Jährige in ihrer Gemeinschaftspraxis in Berg. Darin sitzt sie im weißen Kittel am Schreibtisch oder am Behandlungstisch, warmes Wasser läuft aus dem Hahn, alle Zimmer sind hell beleuchtet. Die technische Ausstattung ist auf dem höchsten Niveau. Kein Vergleich zu Gambia, wo sie unentwegt improvisieren musste. Und sich immer wieder fragte, wo sie überhaupt anfangen soll bei den großen Versorgungslücken im Land. "Ich bin falsch hier", dachte Gsell in solchen Momenten. Doch natürlich war sie goldrichtig. Sie bezeichnet sich selbst als neugierig und abenteuerlustig - die besten Voraussetzungen für einen solchen Einsatz.

Es dauerte nicht lange, da hatten sie die Menschen in Gambia ins Herz geschlossen. Und sie? "Ich habe nicht mehr den Farbunterschied, sondern nur noch die Menschen gesehen", sagt Gsell. Weil sie viel fragte, bekam sie von ihren afrikanischen Mitarbeitern bald den Spitznamen "Princess curious dentist", kurz "Princess CD". Aber klar fragte sie, denn woher sollte sie denn um die gesellschaftlichen und kulturellen Gepflogenheiten in Gambia wissen? "Ich hatte mich so gut wie gar nicht vorbereitet." Aber durch die Fragerei waren ihr die Gepflogenheiten der Einheimischen bald vertraut - etwa, dass mittags zusammen aus einem großen Topf gegessen wird.

Nicole Gsell reiste im Auftrag der Gambia Hilfe Gütersloh, ein Freund hatte vermittelt. Seit ein Kollege 2008 bei einer Fortbildung von seinem Einsatz in Nepal berichtet hatte, wollte auch sie losziehen. Damals arbeitete die zweifache Mutter noch für die Bundeswehr, unter anderem auch in den Kasernen im Fünfseenland. Doch dann kam die eigene Praxis in Berg dazwischen, im Kopf blieb die Idee dennoch.

Schließlich ging es ganz schnell, etwa ein halbes Jahr hatte sie Zeit, sich auf die Wochen in Gambia vorzubereiten. Sie organisierte nicht nur Flugtickets, sondern auch eine sogenannte mobile Einheit, mit der überall zahnmedizinische Eingriffe getätigt werden können. Zwei Firmen stellten Materialien und Instrumente zur Verfügung - was noch fehlte, packte sie aus der eigenen Praxis ein. Und los ging es nach Manjai im Großraum Banjul, der Hauptstadt des Landes. Dort stellte sie enttäuscht fest, dass die mobile Praxis beim Flug beschädigt worden war.

Sie konnte das Gerät wieder halbwegs herrichten, statt eines Fußschalters stand nun jedoch nur ein Kippschalter zur Verfügung. "So durften die Patienten den jeweils benötigten Motor immer selbst an- und ausschalten, was mal besser und mal schlechter funktioniert hat", erzählt sie und lacht. "Den Patienten tropfte es aus dem Mund, weil sie den Sauger nicht anschalteten und mir vor lauter Hitze aus den Handschuhen."

Die ersten zwei Tage verbrachte Gsell in einem Kindergarten, der von der Hilfsorganisation finanziert wird. Auf einem Liegestuhl hat sie alle Kinder untersucht, von den 20 kleinen Patienten hatten lediglich drei keine Karies. Die Erwachsenen, die im Kindergarten arbeiteten, hatten massiv Zahnstein und Konkremente. "Eine Zahnreinigung hat mindestens zwei Stunden gedauert", erzählt die Murnauerin. Es fehle den Menschen dort grundsätzlich an Aufklärung zu Mundhygiene und Ernährung - und an Geld. "Eine Zahnbürste für umgerechnet 15 Cent ist für viele einfach nicht drin." Stattdessen kauten viele auf Stöcken herum.

Eine Füllung kostet umgerechnet 2,29 Euro - viele können sich das nicht leisten

Am dritten Tag ging es schließlich mit dem Jeep nach Changally, einem Dorf im Osten des Landes, das bislang noch nicht an die Stromversorgung angeschlossen ist. Dort unterhält die "Gambia Hilfe" eine kleine Klinik, die über eine Solaranlage verfügt. Gsell checkte im Gästehaus ein, jeden Morgen um halb acht ging es nach einem heißen Kaffee los.

Die Patienten konnten sich im Rondell der Klinik ein Ticket für den Arzt kaufen. Vier Jahre lang war kein Zahnarzt mehr dort, die Nachfrage war entsprechend groß. 100 Dalasi (1,53 Euro) kostete die Entfernung eines Zahnes, für eine Füllung wurden 150 Dalasi (2,29 Euro) berechnet. "Viele können sich das gar nicht leisten", so Gsell. Oder lediglich die Behandlung eines Zahnes - obwohl sie zehn Löcher hatten. "Ich habe dann trotzdem die benachbarten Zähne ohne Berechnung mitversorgt", erzählt die Ärztin.

Auch die Entfernung nur eines zerstörten Zahnes aufgrund der Kosten hat sie nicht gemacht - "die anderen würden in kürzester Zeit wieder zu starken Schmerzen führen". Jedoch: Der nächste Zahnarzt ist hier etwa 45 Autominuten entfernt und verlangt für eine Zahnentfernung 400 Dalasi (6,10 Euro). "Die Leute, die ich traf, konnten alle gut Schmerzen ertragen."

Gsell tat, was sie konnte. Sie behandelte Zahnwurzeln, ohne zuvor ein Röntgenbild davon gesehen zu haben und bastelte Prothesenstifte aus Wurzelkanalfeilen und Brückenglieder aus abgeschnittenen Feilen und Kunststoff. Einem Patienten zog sie sieben verfaulte Zähne, sieben anderen Zähnen verpasste sie zwölf Füllungen.

Belohnt wurde sie mit größter Dankbarkeit und lachenden Gesichtern. Eine Frau, die nach der Entfernung ihrer Zahnsteinplatten wieder schmerzfrei essen konnte, brachte ihr als Geschenk eine Gurke aus dem eigenen Anbau vorbei. Ein Patient schreibt ihr noch immer manchmal per WhatsApp: "Ich lächle jeden Tag."

Sie habe in diesen Wochen viel gelernt, sagt Gsell. Nicht nur medizinisch, auch menschlich. Als eine deutsche Patientin nach ihrer Rückkehr klagte, ihr abgebrochenes Provisorium sei eine Katastrophe, da sagte sie: "Nein, das ist keine Katastrophe. Ich komme gerade zurück aus Gambia." Gsell ist gelassener geworden - und sie strahlt geradezu. Das hat sie von den Frauen auf dem Klinikgelände mitgenommen. "Die sind immer gut gelaunt, obwohl sie sehr hart arbeiten." Als Gsell das anmerkte, bekam sie zu hören: "Ich mache die Arbeit, die Gott mir gibt. Ich kann sie fröhlich tun, oder nicht."

Ende des Jahres, gleich nach Weihnachten, will Nicole Gsell noch einmal für zwei Wochen in die Klinik nach Gambia reisen. Sie hofft, bis dahin einen einfachen Zahnarztstuhl und eine rudimentäre Ausstattung für das Labor aufgetrieben zu haben. Das wäre ein großes Ding. Um die vielen kleinen Dinge kümmert sich die neugierige Zahnärztin ohnehin. Sie weiß jetzt schließlich, wo sie anfangen kann.

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