Süddeutsche Zeitung

Kultur in Andechs:Von der Faszination fremder Länder

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Beim Konzert im Andechser Florian-Stadl beweisen die Pianistin So-Jin Kim und die Sopranistin Sarah Aristidou, dass sie das Wechselspiel zwischen fesselnder Erzählung und eingeflochtener Melodik beherrschen.

Von Reinhard Palmer, Andechs

In keinem anderen Genre kommen sich Volksmusik und Ernste Musik so nah wie im Kunstlied. Manch ein Kunstlied ist zum Volkslied geworden, etwa "Am Brunnen vor dem Tore", das Schubert im Liederzyklus "Die Winterreise" mit dem Gedicht "Der Lindenbaum" von Wilhelm Müller schuf. In Bearbeitung von Friedrich Silcher wurde es so populär, dass es zum Volksgut avancierte.

Der Liederabend der Andechser Veranstalterin Gabriele Dressler im Florian-Stadl am vergangenen Samstag machte gerade diese Liaison zum Thema. Der Titel "Shéhérazade" versprach Spannendes, war doch Scheherazade als Tochter eines persischen Königs die legendäre Urheberin der Geschichten von 1001 Nacht. Hier ging es also inhaltlich in eine kulturelle Tradition, die angesichts der vielen Krisenherde in der Region fast in Vergessenheit geraten ist. Der Liederabend in der Konzertreihe "Lied international" unter der Schirmherrschaft des großen Liedbegleiters Helmut Deutsch wurde damit dem ehrgeizigen Konzept auf spektakuläre Weise gerecht.

Die Wege der gewählten Komponisten hatten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar in Paris, gekreuzt, doch die inhaltlichen Verbindungen zogen sich über den ganzen Nahen Osten bis hin zu Ausläufern in die europäische Kultur über die Mauren in Spanien. Dass sich die künstlerische Leiterin, Pianistin und Liedbegleiterin So-Jin Kim, an ein solch komplexes Thema heranwagte, lag wohl am Trumpf in ihrem Ärmel - an der französisch-zypriotischen Sopranistin Sarah Aristidou, die sich nicht nur mit Sprachgewandtheit in Griechisch, Französisch, Spanisch und Hebräisch hervortat, sondern darüber hinaus auch mit Kenntnissen diverser folkloristischer und liturgischer Gesangstechniken der dazugehörigen Traditionen brillierte.

Diese gesangstechnische Flexibilität der auch opernerprobten Sopranistin macht sie besonders für experimentierfreudige und zeitgenössische Komponisten interessant. Kaum eine klassisch ausgebildete Sängerin hat ein so breites Spektrum anzubieten, was sich auch in ihren zahlreichen Engagements auf großen Bühnen bis hin zu den Salzburger Festspielen oder den Opernhäusern von Frankfurt, Dresden, Berlin und München widerspiegelt. Die Auswahl der Werke konzentriert sich auf Kompositionen von Maurice Ravel, der sich wie kein anderer für musikalische Besonderheiten und Kulturen öffnete.

Als Finale gab es Ravels "Kaddish", die jüdische Totenklage

Gerade was die "Cinq mélodies populaires grecques" betrifft, war das a cappella gesungene zypriotische Volkslied "Agia Marina" zur Eröffnung des Konzerts ein hochemotionales Abtauchten in eine ferne Welt. Der melismenreiche Gesang sensibilisierte für die Besonderheiten der wohl aus Byzanz stammenden Harmonik, auf die Ravel immer wieder verwies und dem damit insbesondere im Klavierpart eine faszinierende Verbindung impressionistischer Klangmalerei mit orientalischen Bildern gelungen war.

Kim ließ sich zwar von dieser reichen Farbigkeit verführen, vergaß aber ihre pianistische Präzision im Zusammenspiel mit Aristidou nicht. Genau dieses Jonglieren zwischen fesselnder Erzählung und eingeflochtener Melodik machte die Faszination der Musik aus. Das sollte sich in den "Quatre poèmes hindous" des Schülers und Reisebegleiters von Ravel, Maurice Delage, als entscheidend herausstellen. Erstaunlich, dass dieser Komponist, der nie eine Musikhochschule besucht hatte, in der Lage war, eine so komplexe harmonische Struktur mit einem geradezu virtuosen Klavierpart zu erschaffen und auch die fremdländische Charakteristik zu erfassen.

Ravel bewies allerdings mehr Fingerspitzengefühl im dramaturgischen Verlauf und kreierte mit der Geschichte von "Shéhérazade" mit dem Text von Tristan Klingsor (eigtl. Léon Leclère) ein kleines Drama, das Aristidou mit einem weiten, schlüssigen Bogen wogender und sich immer wieder eruptiv entladender Emotionen inszenierte. Besonders temperamentvoll und leidenschaftlich wurde es vor allem in Liedern mit spanischen Rhythmen, so von Ravel in "Vocalise en forme de Habanera" und den großartigen "Siete canciones populares españolas" von Manuel de Falla, die das Duo Kim und Aristidou in gewohnt homogener Weise in Stimmungen und Emotionen verwandelte.

De Falla war dahingehend ein Meister, dass er mit jedem Lied einen kleinen Kosmos entwarf, in dem sich viele traditionelle Elemente zu einer schlüssigen Einheit fügten. Auf diese Weise sensibilisiert, war das Publikum bereit für das große Finale von inbrünstiger Eindringlichkeit: Ravels "Kaddish", die jüdische Totenklage, ist eine höchst emotionale Hymne. Mit entsprechender Gesangstechnik vermochte Aristidou hier eine gewaltige Wirkung zu erzeugen, die tief und nachhaltig unter die Haut ging.

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