Süddeutsche Zeitung

Seelische Gesundheit:Krisen im Kinderzimmer

Lesezeit: 3 min

Von Stephan Handel

Könnte sein, dass man anfangen sollte, sich Sorgen zu machen, wenn ein Arzt diese ratlose Frage stellt: Was ist denn eigentlich los? Noch dazu ist es nicht irgendein Arzt, sondern Gerd Schulte-Körne, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LMU. Er spricht davon, was seine Klientel krank macht, wie aus Kindern und Jugendlichen Patienten in der Psychiatrie werden. Was Schulte-Körne sagt, klingt nicht sehr optimistisch.

Von Belastungen spricht er, von Risiken, davon, dass es unsere Gesellschaft ist, die die Kinder krank macht. 60 Prozent der jungen Menschen erleben, wie sich ihre Eltern trennen und scheiden lassen. 100 Prozent sind dem Dauer-Beschuss der Medien ausgesetzt, Fernsehen, Internet, Computerspiele. Und fast alle Kinder müssen damit leben, dass die Anforderungen an sie bereits in jungen, in sehr jungen Jahren absurd hoch gesetzt sind: In der vierten Grundschulklasse, im Alter von neun Jahren, entscheidet sich, wer es schafft, wer das Zeug zum Akademiker hat - wer auf das Gymnasium gehen darf und wer nicht.

Gesellschaftliche Anforderungen, elterliche Erwartungen und der Druck der Gruppe: All das zusammen kann bei jungen Leuten zu dem führen, was in der ärztlichen Diktion "Auffälligkeit" heißt oder "Störung". Dass die Veranstalter der "Woche für seelische Gesundheit", die am Donnerstag beginnt, sich besonders der jungen Menschen annehmen, der Situation, in der sie leben, der Gefahren, die ihnen drohen, und der Perspektiven, die ihnen geboten werden können - das zeigt schon, dass da ein großes Problem lauert.

Mehr "Awareness", weniger Hemmungen

Wie groß - das kann Franz Joseph Freisleder in Zahlen fassen, der Ärztliche Direktor der Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie: An den verschiedenen Standorten des Klinikums in ganz Oberbayern wurden um 1998 herum pro Jahr rund 450 Patienten stationär aufgenommen. 2014 waren es 1650 - eine Verdreifachung. Bei den ambulanten Behandlungen stieg die Zahl um fast das Zehnfache: Vor 15 Jahren waren es rund 1500, heute sind es 14 500.

Die Zahlen klingen besorgniserregend, doch verlieren sie etwas an Dramatik, betrachtet man die Gründe für den Anstieg: Beileibe ist es nicht so, dass heutzutage zehn mal mehr Jugendliche an der Seele erkranken. Vielmehr ist das gestiegen, was die Ärzte "Awareness" nennen: die Achtsamkeit für psychische Auffälligkeiten ist ebenso angewachsen, wie die Furcht vor Stigmatisierung gesunken ist. Es gelangen einfach mehr Patienten in ärztliche Behandlung - und damit in die Statistik -, die noch vor wenigen Jahren als Zappelphilipp, Faulpelz oder halt irgendwie anders betrachtet worden wären. Zudem, sagt Freisleder, haben sich die diagnostischen Möglichkeiten verfeinert: "Wir können heute sehr viel genauer hinschauen." Und so, wie die Zahl der Drogendelikte steigt, wenn die Polizei ihren Fahndungsdruck erhöht, wächst eben auch die Zahl der psychologischen und psychiatrischen Diagnosen, wenn Ärzte genauer suchen.

Das ist, insgesamt gesehen, durchaus positiv, weil "einer Vielzahl der Kinder geholfen wird", so Freisleder. Auf der anderen Seite müssen sie auch gelegentlich "übersensiblen Eltern" erklären, dass das Problem, das diese bei ihren Kindern glauben feststellen zu können, ein pädagogisches ist, kein psychiatrisches: "Nicht jede Auffälligkeit ist gleich eine Störung."

Die gestiegene "Awareness" führt allerdings nicht dazu, dass die jungen Menschen früh ärztliche Hilfe bekommen: 80 Prozent der Patienten kommen über die Notfall-Ambulanz in die Heckscher-Klinik, nur 20 Prozent geplant, eine glatte Umkehrung der Verhältnisse, wie sie vor 15 Jahren waren. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Wartezeit auf einen Termin bei einem niedergelassenen Jugend-Therapeuten mehrere Monate beträgt - ein Hinweis auf eine dramatische Unterversorgung, ebenso wie die Tatsache, dass die psychiatrischen Betten in der Stadt immer zu 100 Prozent ausgelastet sind. Angststörungen, Depressionen, Suizidalität, Essstörungen und alle Arten von Sucht - "das ist unser täglich Brot", sagt Franz Joseph Freisleder.

Allgemeine Aufklärung ist oft unwirksam

Was tun? Erst mal einen Arbeitskreis gründen. Stephanie Jacobs, neue Gesundheitsreferentin der Stadt, hat genau das getan, im Rahmen des Gesundheitsbeirats sollen Kliniken, Behörden, Schulen, Hilfseinrichtungen zusammenfinden und ihre Arbeit aufeinander abstimmen. Auch im Sinne der Prävention. Dabei geht es vor allem darum, problematische Familien zu identifizieren und nicht nur die Kinder zu behandeln, sondern alle ihre Bezugspersonen mit einzubeziehen. Das ist notwendig, weil die Ursachen für psychische Probleme oft in den Familien der jungen Patienten zu finden sind und die Therapie deshalb dort ansetzen muss.

Doch dieser spezielle, zielgerichtete Ansatz ist auch aus einem weiteren Grund notwendig: Generalisierte, allgemeine Prävention, Aufklärung, Information ist oft nicht nur unwirksam - gelegentlich schadet sie sogar mehr als sie nützt. Gerd Schulte-Körne, der LMU-Jugendpsychiater: "Wenn wir in eine Schulklasse von 14-jährigen Mädchen gehen und denen etwas über Essstörungen, Bulimie, Anorexie erzählen - dann kann man sicher sein, dass zwei oder drei von ihnen ein paar Wochen später damit anfangen."

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Quelle:
SZ vom 06.10.2015
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