Süddeutsche Zeitung

Schwanthalerhöhe:Gardinenspitzenteebeuteltanz

Lesezeit: 2 min

Ein Spiel mit Sehgewohnheiten in Kirchen, Werkstätten und Autohäusern

Von Andrea Schlaier, Schwanthalerhöhe

Als alle Türen zu waren, bekamen Fenster eine neue Bedeutung. Denn das Leben in dieser Stadt und der halben Welt spielte sich seit dem Frühjahr 2020 sehr lange nicht mehr vor, sondern hinter ihnen ab. Wer allein auf den Straßen unterwegs war und Sehnsucht nach dem Anblick anderer Menschen hatte, spitzte heimlich oder unverblümt durch fremde Scheiben. In Untergiesing, Neuaubing genauso wie in Wasserburg am Inn. Zuweilen hängte sich was zwischen die freie Sicht: Spitzengardinen, beste 60er- und 70er-Jahre-Ware. Und warum? Weil das die einzige Chance für die polyesterlastigen Loch-Hänger war, auch mal in den Vordergrund zu treten. Anna Kiiskinen gönnt ihnen diesen Auftritt, hat sie erst fotografiert und dann in Gemälde und Kaltnadelradierungen für die Ewigkeit gefasst unter dem Serien-Titel "Bayerische Gardinen". Die Stores zu dieser Lockdown-Reihe zieht die Malerin auf, wenn im Westend nach überlanger Pandemie-Pause endlich auch wieder die Türen vieler Künstlerinnen und Künstler aufspringen: beim Open Westend von diesem Freitag, 1. Oktober, an bis zum Sonntag, 3. Oktober.

Und wie immer auf dieser Insel der entdeckungs- und improvisierfreudigen Gestalterinnen und Gestalter regt sich viel Neues, unerwartete und unerwartbare Kunst in Werkstätten, Kirchen, hinter und vor großen Schaufenstern - viele richten dabei den Blick auf die vergangenen eineinhalb Jahre. Neben Kiiskinen, die ihre Arbeiten im Rückgebäude des Autohauses Häusler zeigt, Trappentreustraße 5, 2. Stock, etwa auch die Performance "Begrenzung" der Tanztheatergruppe "Talinovo", zu der auch Open Westend-Organisatorin Anna Eichlinger zählt. Unter anderem am 3. Oktober um 15 Uhr werden die Frauen ihre Kunst Am Gollierplatz vor St. Rupert am Kiliansplatz 1 zeigen. "In der Begrenzung der eigenen vier Wände entstand über Monate eine Choreografie", erzählt Anna Eichlinger, "sie wird jetzt als Performance fortgeführt".

In der anderen Kunst-Kirche des Viertels, St. Benedikt, Schrenkstraße 4, zeigt Matthias Mondon, der seinen fotografischen Blick gerne und lange auf Alltagsphänomenen ruhen lässt, eine Installation aus "Do not disturb"- und "Clean up my room"-Hotelschildern und dokumentiert damit einen gängigen gesellschaftlichen Widerspruch: die Abgrenzung des Einzelnen gegenüber der Öffentlichkeit ("Do not disturb") bei gleichzeitiger Abgabe der eigenen Verantwortung nach außen ("Clean up my room"). Ihm zur Seite finden sich in St. Benedikt unter anderem Natalie Squires fotografische Schnittstellen, an dem Mensch und Natur sich berühren wie ein bis in die Baumkrone hochfliegender Hula-Hoop-Reifen. Zu Füßen ihrer Bilder hat Brigitte C. Reichl einen offenen Koffer abgestellt, gefüllt mit beunruhigend in Schwarz eingebundenen Karten und Briefen, dunkle Botschaften. Auch darauf wird Ulrich Schäfert, Leiter der Kunstpastoral in der Erzdiözese München und Freising, bei der Eröffnung des Open Westend in einem Künstlergespräch in St. Benedikt eingehen, an diesem Freitag, 18 Uhr.

"Diesmal werden viele spannende, auch ungeplante Dinge passieren", prophezeit Anna Eichlinger, sowohl die Künstler müssten wegen lange unklarer Bedingungen improvisieren, "aber auch das Publikum muss sich umschauen". Nicole Raabe wird mit Sehgewohnheiten brechen - sie lässt Teebeutel filmisch in ihrem Fenster in der Guldeinstraße 35 tanzen und Brechbohnen Mikado spielen. Karl Imhof und sein Ensemble liefern am Freitag um 19 Uhr die Uraufführung ihres Sprechstücks "Gemäß Frisör" zu. Bühne ist Julia Reichs Werkstatt für Druckgrafik, Gollierstraße 70, und wache Geister können baden im spielerischen Umgang mit Textfragmenten, Fundstücken und Sprachfetzen und sich übereinander legenden Sinn- und Klangebenen. Fast wie beim Friseur.

Kurzum: Mit großer Lust werden am Wochenende Vorhänge zurückgezogen - Details zum Programm unter www.openwestend.de.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5426411
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 01.10.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.