Süddeutsche Zeitung

Schwabing:Dem Freigeist eine Bühne

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Der Verein Blütenring baute in den Achtzigerjahren das Amphitheater im Englischen Garten, wo er bis heute Aufführungen inklusive Picknick organisiert. Gründungsmitglieder erinnern sich an die Anfänge in einem Privathaus, an skurrile Inszenierungen und kostümierte Zuschauer

Von Nicole Graner

Es ist eine Freundschaft über lange Jahre. Das spürt man. Sieht man. Christa Weissenfeldt und Christl Karnehm stupsen sich kurz an, wenn sie nach den rechten Worten suchen, sie werfen sich Blicke zu, die voller Erinnerungen sind. Ein Stichwort, wie der leise Zuruf einer Souffleuse, und schon öffnet sich ein buntes Bilderbuch in ihren Köpfen, das sie mit Freude durchblättern. Nicht chronologisch von Seite eins an, sondern ganz wahllos. Einfach den Erinnerungen nach, die spontan aus ihnen herausperlen.

Stichwort "Blütenring". Was ist das für eine Bezeichnung, die einem Theaterverein, einem Freundeskreis den Namen gibt? Beide Frauen blicken sich an, wohl wissend, was jetzt alles kommt - und Christa Weissenfeldt beginnt zu erzählen. Mit einem Leuchten in den Augen, das sofort erahnen lässt, dass diese erste Frage nur schöne Erinnerungen wachruft. "Ach ja", sagt die 77-Jährige, "was waren das für Zeiten!" Sie meint die Siebzigerjahre. Und sie meint eine Theatergruppe, die Kunstgeschichts- und Architekturstudenten um Pankraz von Freyberg, den späteren Intendanten der Europäischen Wochen in Passau, in dieser Zeit ins Leben gerufen haben. In einem kleinen Garten in Freimann, Am Blütenring. "In unserem Haus direkt am Englischen Garten", erklärt Weissenfeldt. Hausnummer 8. Die Studenten kamen, auch Pankratz von Freyberg. Man unterhielt sich, und irgendwann muss Freyberg wohl Verse aus dem Stück "Sappho" des Malers Rudolf Levy (1875-1944) zitiert haben. Ein recht schlüpfriges Stück über die in Lesbos lebende Dichterin. Und schnell war die Idee geboren, das Stück doch selbst einmal aufzuführen. "Oh ja", sagt die 72-jährige Christl Karnehm. Das Stück sei so unanständig gewesen, dass die Frauen keinesfalls mitspielen wollten. Sie erinnert sich an die selbst geschneiderten Kostüme, an riesige Penisse, die dabei eine Rolle spielten. Christl und Christa lachen. "Genau", und sie stupsen sich an, "diese Penisse!"

Nach langen Proben ist es soweit. Am 16. Juli 1977 wird die "Sappho" im Garten der Weissenfeldts aufgeführt. Übrigens mit der Vorgabe, dass auch die Zuschauer passend zum Stück in antiker Kleidung erscheinen sollten. Die Anwohner hätten, so erzählen beide Frauen, nicht schlecht gestaunt, als plötzlich Menschen in Bettlaken gewandet, mit Blüten- oder Lorbeerkränzen im Haar auftauchten und in der Hausnummer acht verschwanden. "Ein Brandzeichen haben wir in dieser ruhigen Siedlung damit gehabt", erzählt Weissenfeldt. Ein großer Erfolg war der Abend trotzdem. "Kurios und unglaublich schön", sagt die 77-jährige.

Die Theatergruppe "Blütenring" war geboren. Brandzeichen hin oder her, es war klar: Das nächste Stück musste einfach folgen. Und damit kommt diese edle Schachtel ins Spiel, die Christl Karnehm mitten im Gespräch auf dem Balkon am Ackermannbogen aus dem Wohnzimmer holt. Unzählige Fotos, liebevoll auf weißen Karton geklebt, liegen darin. Sofort wird der Stoß durchgeschaut. Auf der Suche nach Bildern von der nächsten Aufführung im "Blütenring"-Garten: "Lohengrin" von Nestroy. Und es liegt auf der Hand, wie die fast 300 Besucher 1979 dann kostümiert waren: als Schwäne.

Drei Stücke wurden im Garten gespielt, und es kamen immer mehr Leute. Diese freien, humorvollen Inszenierungen hatten sich herumgesprochen, auch das Picknick danach. Zwei vorgebratene Spanferkel fuhren da schon mal auf dem Dachträger eines Autos durch München - bis zum Blütenring, erinnert sich Christa Weissenfeldt.

Es war eine Zeit des Aufbruchs,der Sehnsucht nach Ungezwungenheit. Es war die Zeit für neue Wege in der Kunst. Regisseur Pankraz von Freyberg wusste das, ahnte, was die Menschen brauchten, mischte seine Stücke mit Ernsthaftigkeit und einer großen Portion skurriler Komik. Doch 300 Leute in einem Garten? Am Blütenring 8? "Die "Grenze war erreicht", sagt Weissenfeldt. Dann erinnerte sich Freyberg daran, dass es mal ein Amphitheater im Englischen Garten gegeben hatte. 1793 hatte man in der Nähe der Martiusbrücke tatsächlich einen halbkreisförmigen Orchestra-Platz gebaut. Freyberg hielt an der Vision fest, wie beide Frauen erzählen, sprach mit den Verantwortlichen der Schlösser- und Seenverwaltung - und hatte Fürsprecher. Im Norden des Parks, auf einem ehemaligen Kompostplatz sollte das neue Amphitheater entstehen. Bauherr: der Verein "Blütenring". 80 000 Mark kostete der Aufbau, der durch Spendengelder finanziert wurde.

Im Juli 1985 war noch einmal Schwanenzeit. Mit Nestroys "Lohengrin", einem Kostümfest und einem nächtlichen Umzug wurde das neue Amphitheater eröffnet und vom Blütenring gleich als Geschenk an den Freistaat Bayern übergeben. Viele Stücke sollten folgen, immer mit Picknick und Kinderprogramm, doch irgendwann, so erzählen die beiden Frauen, war die Luft raus. Aufhören oder weitermachen? Der Verein entschied sich, zum 40. Bühnenbestehen weiterzumachen. Anders und neu.

2017 übernahm Jaume Villalba die Regie. Und damit zog die Commedia dell' arte ins Amphitheater ein. "Der Text steht dabei nicht im Mittelpunkt", sagt Villalba, der unter anderem in Venedig studierte. Man mag ihm das im Moment gar nicht glauben, so temperamentvoll spricht der Katalane. So schnell. Kann dieser Mann leise sein? Er kann, versichern Christa und Christl. Der Text ist nicht der Mittelpunkt, sondern eher die Mimik, die Gestik und das Spiel mit der starren Maske und dem Gesicht des Schauspielers.

Die fünfte Aufführung unter der Regie des 54-Jährigen und in Kooperation mit dem Integrationsprojekt "Bellevue di Monaco" ist nun inspiriert von Mozarts "Zauberflöte". Wirklich nur inspiriert. Denn alles ist hier ein bisschen anders. Ein bisschen skurriler. Papageno zum Beispiel will eigentlich kein Mensch sein, nur ein Vogel. Passt zum Stil des Blütenrings.

Die beiden Freundinnen sind froh, dass der Blütenring eine Fortsetzung gefunden hat. Ist er doch ein Teil ihres Lebens. Zu den alten Erinnerungen kommen nun nach und nach neue hinzu. Sie sind anders, aber "genauso schön", sagt Christl Karnehm. Und doch haben beide den Wunsch, die Organisation von Theatertagen und Verein bald in junge Hände legen zu können. Wer auch immer kommen mag - an Geschichten zum Einstieg wird es nicht mangeln.

Theatertage 2021: Samstag, 26. Juni, von 17.30 Uhr an Picknick mit Musik, um 19 Uhr Die Zauberflöte. Sonntag, 27. Juni von 16 Uhr an Musik und von 17 Uhr an eine musikalische Reise für Kinder. Ausweichtermin: 4. Juli. Der Eintritt ist frei .Weitere Informationen unter. www.bluetenring-ev.de.

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Quelle:
SZ vom 23.06.2021
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