Süddeutsche Zeitung

Schulprojekt:Starkes Stück

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Eigentlich wollten sie nur einen Theaterkurs belegen oder für eine Jugendzeitschrift schreiben, doch jetzt bringen Schüler des Gisela-Gymnasiums gemeinsam Schicksale von Flüchtlingen auf die Bühne

Von Jakob Wetzel

Ein Sturm zieht auf. Gerade haben die Menschen auf dem Boot noch voller Hoffnung zum Horizont geblickt, im Morgengrauen zeichnete sich die rettende Küste ab. Jetzt aber greift Entsetzen um sich. Die Wellen schlagen hoch, die einen klammern sich an das Schiff, die anderen rennen hektisch durcheinander. Neun Flüchtlinge saßen anfangs in diesem Boot. Überleben wird die Fahrt nur eine Frau.

"Tod auf dem Mittelmeer" nennt Marc Withut diese Szene. Der Lehrer für Geografie und Deutsch leitet die Theatergruppe "K 25" der Oberstufe am Gisela-Gymnasium in Schwabing. Doch seine Schüler und er üben mehr ein als nur ein Theaterstück: Sie bringen Schicksale junger Flüchtlinge auf die Bühne. Was sie zeigen, steht in keinem vorgefertigten Textbuch, sie haben es selbst erarbeitet. Und es beruht auf dem, was Flüchtlinge tatsächlich erlebt haben.

"Flucht und Heimat" heißt dieses Projekt: 24 Schülerinnen und Schüler aus den sechsten bis elften Klassen und zwei Lehrer versuchen am Gisela-Gymnasium, Theater und Journalismus miteinander zu verbinden. Die Hälfte der Teilnehmer gehört zum Theaterensemble, die andere bildet ein Redaktionsteam für trait d'union, übersetzt "Bindestrich", eine interkulturelle Jugendzeitschrift. Sie alle haben zu Beginn des Schuljahres in einem dreitägigen Crashkurs in Grundzügen gelernt, wie Journalisten arbeiten. Sie haben mit Flüchtlingen in München und mit Flüchtlingshelfern gesprochen. Und sie haben daraus Biografien geschrieben. Jetzt erarbeiten die zwölf Mitglieder der Theatergruppe daraus ein eigenes Stück, unter den kritischen Nachfragen der Redakteure. Und schon Anfang April wollen sie das Ergebnis in der Schule aufführen, mit Unterstützung der Schauburg, des Jugendtheaters der Stadt. Die Schüler der Jugendzeitung begleiten sie dabei.

Drei Lebensgeschichten werden am Ende im Vordergrund stehen. Drei Geschichten, die sich nicht exakt so ereignet haben, wie sie gezeigt werden. Manche Szenen sind näher am Schicksal einzelner Flüchtlinge entlangerzählt als andere; doch alle Geschichten beruhen auf wahren Begebenheiten.

Da ist zunächst die Geschichte eines Kriegsflüchtlings: Bei einem Luftangriff entschließen sich zwei Geschwister zur Flucht. Schleuser bringen sie über die Grenze. Doch eines nachts wird die Schwester entführt und an Menschenhändler verkauft. Der Bruder komme kaum damit zurecht, dass er als ihr Beschützer versagt habe, sagt Jonathan von Lovenberg, 17, einer der Schauspieler.

Ein zweiter Handlungsstrang erzählt von einem jungen Mädchen, das zwangsverheiratet werden soll, die aber homosexuell ist und deshalb flieht. Und die dritte Geschichte ist die eines jungen Mannes aus Nordafrika: Er hatte berichtet, er habe eigentlich nur seinen Arbeitgeber um den ausstehenden Lohn gebeten. Doch statt des Geldes erhielt er einen Schlag gegen den Kopf. Als er wieder zu Bewusstsein kam, lag er auf einem Boot, das ihn mit vielen Unbekannten übers Mittelmeer trug. Es gebe nahezu nichts, was einem Flüchtling nicht passiert sein kann, sagt die 17-jährige Nina Sponheimer.

Es gibt zwei Bindeglieder zwischen den Schicksalen: Einmal die Fahrt über das Meer, sie steht deshalb im Zentrum des Theaterstücks. Das andere Verbindende ist die Ungewissheit am Ziel. Die erste Szene soll daher einen Wartesaal in einer Behörde zeigen, in der die drei Protagonisten aufeinandertreffen. Am Ende löst sich auf, was geschehen wird: Einer der Geflohenen darf bleiben, einer muss zurück. Beim dritten fällt keine Entscheidung, ob und wie lange er bleiben darf. Er bleibt in der quälenden Unsicherheit zurück.

Wie es mit dem Theaterprojekt vorangeht, kann jeder im Internet mitverfolgen: Unter www.traitdunion.online berichten Lehrer und Schüler immer wieder mit Texten, Videos und Radiobeiträgen von ihren Fortschritten. Trait d'union dient ihnen dabei als Forum, das Arbeiten für die Zeitschrift ist derzeit ein Wahlfach am Gisela-Gymnasium. Sie vernetzt Schulen und andere Bildungseinrichtungen aus verschiedenen Ländern und Kulturen miteinander, die dann meist zusammen ein multimediales Magazin zu einem gemeinsamen Thema zusammenstellen. Der Kopf hinter trait d'union ist Lothar Thiel: Der Lehrer für Deutsch, Sozialkunde und Geschichte hat die Zeitschrift 1999 an der Deutschen Schule in Toulouse mit anderen gegründet; seitdem leitet er sie. Jetzt ist Thiel Lehrer am Gisela-Gymnasium, und trait d'union hat er hierher mitgebracht.

An der interkulturellen Zeitschrift hätten in den vergangenen 20 Jahren 27 Schulen aus 14 Ländern auf fünf Kontinenten mit Beiträgen in 30 verschiedenen Sprachen mitgearbeitet, sagt Thiel. Und auch die Pläne für dieses Schuljahr waren ursprünglich nicht auf München beschränkt. Am Projekt "Flucht und Heimat" sollten auch Schüler aus der Gurugram Public School in Gurgaon bei Neu-Delhi sowie aus dem Liceo Sesto Properzio in Assisi mitwirken. Die italienischen und die indischen Schüler sollten zum Workshop und zur Aufführung nach München reisen. Doch kurz vor Beginn hätten die beiden Partnerschulen leider absagen müssen, sagt Thiel.

Die Münchner stemmten das Projekt also ohne die anderen Schulen - alleine seien sie aber nicht gewesen, sagt Thiel. Das Integrationstheater "Grenzenlos" zum Beispiel griff den Schülern unter die Arme, ebenso Mitglieder des Vereins "Eigenleben.jetzt", in dem laut Selbstbeschreibung "seniorige Kreative" vernetzt sind. Trait d'union, der Bindestrich, verbinde hier nicht nur Kulturen, sondern auch Generationen, sagt Thiel.

Hilfe fanden die Schüler und Lehrer des Gisela-Gymnasiums auch bei der Schauburg, dem städtischen Jugendtheater in der Nachbarschaft. Die Profis dort hätten für Mai ebenfalls ein Theaterstück aus ihrem Repertoire zum Thema Flucht ins Programm genommen; und im Vorfeld würden Schauspieler der Schauburg zu den Proben in die Schule kommen und umgekehrt Schüler ins Theater, erzählen die beiden Lehrer.

Lothar Thiel würde trait d'union gerne noch stärker in München vernetzen. Die Stadt werde schließlich immer interkultureller, sagt er. "Ein bisschen ist das auch die Zukunft von trait d'union. Interkulturalität heißt ja nicht zwangsläufig Internationalität." Thiel geht im Februar in den Ruhestand, die Zeitschrift aber will er weiterhin zentral koordinieren. Wenn weitere Münchner Bildungseinrichtungen Interesse an einer Zusammenarbeit hätten, würde er sich freuen, sagt er.

Die Schüler am Gisela-Gymnasium haben Thiel und Withut mit ihrem Projekt dagegen überrumpelt. Die Redakteure hatten zunächst keine Vorstellung, wohin das Theaterprojekt führen sollte. Und die anderen Schüler hätten nur den Theaterkurs in der elften Klasse belegen wollen, erzählt Withut. Dass sie es mit Flüchtlingen zu tun bekommen würden, habe niemand gewusst. Ihre ersten Reaktionen seien auch verhalten gewesen, erzählen die Schüler. "Anfangs habe ich mir gedacht: schon wieder ein Workshop, und schon wieder dieses Thema", sagt Christina Bierling, 16. Mit Fluchtgeschichten sei man ja oft konfrontiert. Jetzt aber sehe sie die Sache doch in einem anderen Licht. "Man hört sonst nur von den Unfällen und davon, wenn etwas schief läuft - und nicht von den Geschichten, die dahinterstecken", sagt sie.

Sie selbst habe Flüchtlinge sonst immer nur im Fernsehen gesehen, sagt Xenia Kocherscheidt, 17. Nicht nur für sie, auch für andere sei der Workshop das erste Mal gewesen, dass sie sich persönlich mit einem Flüchtling unterhalten hätten. Jetzt habe sie einen ganz anderen Bezug zum Thema. Es habe geholfen, dass die Flüchtlinge etwa gleichaltrig waren, sagt sie. "Wir unterhalten uns sonst oft über unsere Probleme in der Schule. Aber erst im Projekt haben wir realisiert, wie klein diese Probleme sind, und wie viel Glück wir eigentlich haben, hier geboren zu sein."

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SZ vom 24.01.2019
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