Süddeutsche Zeitung

Prozess:"Ich hatte keine Gefühle mehr für mein Kind"

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Von Christian Rost

Sie könne die Tat "aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehen", sagt Claudia S. ( Name geändert). Die Diplom-Psychologin hatte am 13. Dezember 2015 versucht, ihre Tochter zu erdrosseln. Die 14-Jährige konnte sich nur mit Mühe aus der Schlinge befreien, die ihr ihre Mutter um den Hals gelegt hatte, und sich zu einer Nachbarin retten. Seither ist Claudia S. in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Ob sie dauerhaft in der Klinik bleiben muss, darüber entscheidet das Landgericht München I. Seit diesem Donnerstag wird der Fall von versuchtem Mord vor der 2. Strafkammer verhandelt.

Die 50-Jährige steht nicht als Angeklagte, sondern als Beschuldigte vor Gericht, weil sie laut einem psychiatrischen Gutachten möglicherweise schuldunfähig ist. Zur Tatzeit und auch in den Monaten zuvor litt die Alleinerziehende an einer schweren Depression. Sie hatte sich einen komplizierten Beinbruch zugezogen und war zwei Monate krank geschrieben. In dieser Zeit fiel sie in ein tiefes Loch: "Ich hatte nur noch negative Gedanken und dachte, ich hätte mein Leben falsch gelebt und bei meiner Tochter alles falsch gemacht", berichtet die Frau. "Vorher war ich zufrieden."

In dieser dunklen Phase, in der ihr auch verschiedene Medikamente nicht halfen, sah sie "nur noch schwarz" und entwickelte die Vorstellung, dass es besser sei, wenn sie und ihre Tochter nicht mehr lebten. "Ich wollte, dass mein Kind nicht mehr leidet", sagt Claudia S. Anfang November 2015 ging sie das erste Mal ihre Tochter an. Die Jugendliche schlief noch, als ihr die Mutter eines Morgens ein Kissen aufs Gesicht drückte, um sie zu ersticken.

Das sei aber nur "ein Versuch" gewesen, den sie nicht mit Vehemenz ausgeführt habe, so die Beschuldigte. Deshalb habe sich ihre Tochter auch leicht aufrichten und das Kissen wegdrücken können. Nach diesem Vorfall ließ sich Claudia S. in eine psychosomatische Klinik einweisen, wo man ihr aber offenbar nicht helfen konnte.

Die Patientin war in der Einrichtung nicht geschlossen untergebracht, sondern konnte sich frei bewegen und auch nach Hause fahren, wann sie wollte. Bei einer dieser Gelegenheiten Ende November kam es erneut zu einer bedrohlichen Situation für die Tochter. Sie war mit ihrer Mutter im Auto unterwegs. Während der Fahrt in einem Waldstück zwischen Großhadern und Gräfelfing beschleunigte die Frau plötzlich den Wagen. Ihre Tochter bekam Angst, die Mutter reagierte auf Ansprache nicht mehr. Erst als die Tochter lautstark intervenierte, stoppte Claudia S. und brach in Tränen aus.

Nach weiteren Wochen in der Klinik schien sich die Frau schließlich stabilisiert zu haben. Sie bestand eine Belastungserprobung und durfte wieder für ein Wochenende nach Hause. Am 12. Dezember 2015 besuchte sie mit ihrem Freund und ihrer Tochter einen Weihnachtsmarkt. Es war eine trügerische Normalität, denn schon am nächsten Tag griff sie ihre Tochter erneut an. Sie hatte sich in ihrer Wohnung einen Jeansgürtel bereitgelegt, als sie ihrem Kind eine Massage am Nacken anbot. Währenddessen legte sie unvermittelt den Gürtel um den Hals des Mädchens und zog kräftig zu.

Die Tochter stand Todesängste aus und schrie um Hilfe. Mit den Händen versuchte sie, den Gürtel vom Hals zu lösen. Die Schreie hörte eine Nachbarin. Als diese an der Wohnungstür klingelte, war Claudia S. kurz abgelenkt, sodass die Tochter ihre Mutter an den Haaren packen und sich befreien konnte. Mit der Nachbarin verschanzte sich die 14-Jährige in deren Wohnung, bis die Polizei eintraf.

"Ich hatte keine Gefühle mehr für mein Kind, das war das Allerschlimmste", sagt Claudia S, die geplant hatte, sich nach dem Tod der Tochter in einem See zu ertränken. Mittlerweile ist die Depression mithilfe von Medikamenten abgeklungen - und Claudia S. wünscht sich, so schnell wie möglich zurück zu ihrer Tochter zu dürfen. Für das Verfahren sind noch vier Verhandlungstage angesetzt.

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Quelle:
SZ vom 23.09.2016
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