Süddeutsche Zeitung

Kritik:Gretchen emanzipiert sich

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Jochen Biganzoli macht aus der Oper "Faust - Margarethe" in Augsburg ein Spiel um Gender und Selbstermächtigung.

Von Paul Schäufele, Augsburg

Wenn die französische Oper des 19. Jahrhunderts einen genialen Theatertext in die Krallen bekommen hat, ist das Ergebnis im Vergleich eher ernüchternd. So lautet das Klischee, auch im Fall dieser 1859 uraufgeführten Oper. Charles Gounods "Faust" heizt ein, wo im Original zynische Kälte herrscht, glättet, schematisiert Konflikte, alles zugunsten des Operngenusses. Ganz von der Hand zu weisen ist der leicht philiströse Vorwurf nicht (wobei, streng genommen, das Libretto selbst schon nicht den Knittelvers-Urtext zur Vorlage hatte, sondern eine Bearbeitung für den französischen Boulevard).

Indes, wenn Jochen Biganzoli sich der Regie annimmt, kommt manche Doppelbödigkeit wieder aufs Tableau. Er pointiert die Konfliktpunkte in Gounods Oper, indem er den religiösen Subtext verschleiert und den Fokus auf die Geschlechterrollen setzt und sorgt damit für einen anregenden Theaterabend im Augsburger Interimsopernhaus im Martini-Park. Endlich, nachdem die Premiere schon vor zwei Jahren geplant war. Dabei sind die Mittel, die Biganzoli einsetzt, so einfach wie einleuchtend. Ein bisschen bourgeoiser Pomp kennzeichnet die fracktragenden Herren als eine Gesellschaft von Zuschauern, denen Frauen als beliebig dekorierbare Püppchen zur Verfügung stehen. Die schlicht weiße Bühne (Wolf Gutjahr) lenkt davon nicht ab. Diese Körper sollen gesehen werden.

Mephisto wird erschossen und Faust zum Teufel geschickt

Allein, Margarethe liest - in einem Augsburger couleur locale vermittelnden Video - nicht nur Goethe, sondern auch den neufeministischen Essay "Untenrum frei" ihrer Namensvetterin. Folgerichtig setzt die Oper nach dem dritten Akt noch einmal an. Wieder hört man die ätherische Orchestereinleitung, doch statt "Faust" ist jetzt "Margarethe" zu sehen - die Verhältnisse werden zum Tanzen gezwungen. Wenn sie am Ende Mephisto erschießt, Faust zum Teufel schickt und sich selbst aus dem Staub macht, ist es der letzte Akt einer Selbstermächtigung, deren Anfang schon darin lag, Fausts Arm und Geleit abzulehnen. Doch dieses Nein, das Nein heißt, wurde nicht akzeptiert, das ist der Kern von Biganzolis nur manchmal etwas grob gemeißelter Inszenierung. Denn so schlüssig es ist, hier tief in die Diskurskiste des gender trouble zu greifen, manches bleibt ungelöst. In dieser Logik wäre der Kindsmord ein probates Mittel, sich aus den Machtstrukturen zu befreien.

Doch so radikal geht es nicht zu an diesem Opernabend. Was an Leerstellen bleibt, wird mit Leichtigkeit von einem charmanten, inspirierten Ensemble ausgeglichen: Jacques le Roux' dunkel timbrierter Tenor passt zum weinerlichen Jugendfanatiker, hat aber auch Potenz genug für den liebestollen Schwärmer; ihm hilft Alejandro Marco-Buhrmester, ein kultivierter Teufel mit einem Bass so schwarz wie seine Sonnenbrille, etwas schwankend in der Intonation, dafür witzig in seiner managerhaften Geschäftigkeit; und die weibliche Hauptfigur gewinnt durch die Flexibilität von Jihyun Cecilia Lee, der man das blondzöpfige Gretchen ebenso abnimmt wie die emanzipierte Margarethe. Die große Final-Steigerung in immer höhere Sphären unternimmt sie mit einer Zielstrebigkeit, die keinen Zweifel lässt. Hier findet keine Verklärung statt, sondern die Feier eines schmerzhaft errungenen Sieges. Die Augsburger Philharmoniker unter Domonkos Héja sekundieren auch an dieser dichten Stelle transparent und schlank, das Stück nähert sich nie dem "Paradies für Harthörige" (Heinrich Heine über die Grand opéra) an, sondern bleibt ein intelligent musizierter Kommentar zu einem ständig aktuellen Thema.

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