Süddeutsche Zeitung

Null Acht Neun:Liebesbezeugung oder Mordversuch?

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Der achtsame Mensch macht jetzt einen großen Bogen um andere Menschen. Grauenvoll die Vorstellung, plötzlich umarmt zu werden

Glosse von Wolfgang Görl

Wer in den seligen Zeiten vor Corona spätabends durch die Stadt spazierte, sah hell erleuchtete Bürogebäude und -türme, in deren Inneren Menschen an Monitoren saßen und arbeiteten. Bleiben die über Nacht, dachte man, haben die kein Zuhause? Heute sitzen diese Menschen zu Hause vor dem Monitor, während die Bürotürme verlassen und schwarz wie faule Zähne in den Nachthimmel ragen. Fast würde man sie übersehen, gäbe es nicht immer ein einsames Fenster, aus dem Licht dringt. Vielleicht sitzt da jemand, der Zoff mit der Familie hat oder der seine physische Präsenz für unerlässlich hält, auch wenn alle anderen im Home-Office sind. Gewiss wird dieser letzte aufrechte Büromensch vorwurfsvolle Blicke aussenden, wenn die Heimarbeiter eines Tages wieder zurückkehren in ihre cool designten Open-Space-Büros, in denen mittlerweile Spinnen und Fledermäuse hausen, darunter seltene Arten, zu deren Schutz das gesamte Gebäude zum Biotop erklärt wird. Ist aber egal, denn es hat sich ja herausgestellt, dass das Büro ein Auslaufmodell ist.

Das mag so kommen oder auch nicht. Wer weiß denn schon, wie das Leben nach Corona sein wird, sofern es ein solches überhaupt gibt, denn das Virus wird bleiben. Klar, jeder träumt davon, endlich mal wieder in einem gut gefüllten Theater zu sitzen, aber dann wacht der Träumer schweißgebadet auf, weil er sich so viel Nähe längst abgewöhnt hat. Was früher als unhöflich galt, ist heute eine Tugend. Der achtsame Mensch macht jetzt einen großen Bogen um andere Menschen, und auch den Maskenzwang haben die meisten Münchner inzwischen so verinnerlicht, dass sie eher ohne Hose als ohne Mund-Nasen-Schutz in den Supermarkt gehen würden. Und grauenvoll die Vorstellung, plötzlich umarmt zu werden - man weiß ja nicht, ob es sich um eine spontane Liebesbezeugung oder einen Mordversuch handelt.

Es wird schwierig, die über Monate antrainierten Social-Distancing-Übungen wieder loszuwerden. Am härtesten aber wird die Zeit nach der Pandemie für jene, die durch die Lektüre von drei obskuren Internet-Botschaften und ein Fachgespräch mit der Hausmeisterin umfassende Kenntnisse über Medizin und Viren erworben haben. Das sind, so darf man vermuten, mindestens Zweidrittel der 1,5 Millionen Münchner, und sie alle wissen, dass die Politiker alles falsch machen und dass Wissenschaftler, insbesondere die Virologen, keine Ahnung haben von Viren und anderen Insekten. Man wagt kaum noch, mit Freunden oder Verwandten zu telefonieren, weil man dann wieder hören muss, dass Corona der reine Schwindel ist, angezettelt von Bill Gates, Merkel und der Unesco, die das Virus, das es gar nicht gibt, in unterirdischen chinesischen Laboren gezüchtet haben, um den Leuten als Impfstoff getarnte Mikrochips zu injizieren, damit sie die Fähigkeit zum Querdenken verlieren. Noch pfeifen diese Superchecker ihren Unfug wie die Spatzen vom Dach - aber was wird aus ihnen, wenn sich das Leben normalisiert hat? Zum Beispiel unsere Hausmeisterin: Die Dame, die derzeit Masterkurse in Virologie leitet, wird sich wieder um den Haustratsch kümmern müssen.

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Quelle:
SZ vom 01.04.2021
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