Süddeutsche Zeitung

Neuperlach:Der eigenen Identität auf der Spur

Lesezeit: 2 min

Oberstufler der Europäischen Schule konzipieren eine Ausstellung über die 100 Jahre zurückliegenden Revolutionen und Räterepubliken in Ungarn und Bayern. Und entdecken dabei aktuelle politische wie auch persönliche Bezüge

Von Fabian Huber, Neuperlach

Es gibt wenige Orte, an denen man diesen so oft beschworenen, jedoch so selten greifbaren "Geist von Europa" wirklich zu fassen kriegt. Die Europäische Schule in München ist so einer. Nun gut, vielleicht nicht auf den ersten Blick. Die letzten Tage vor dem Abitur sind angebrochen. Schüler zelebrieren eine Mottowoche zum Thema "Helden der Kindheit", recht weit interpretiert. Von Winnie Puuh bis zur Dragqueen stolziert also so manch ausgefallene Gestalt über die Flure.

Aber zurück zum Geist von Europa, zur neunten Unterrichtsstunde, zum Leistungskurs Geschichte. Dort rekapituliert der Schwede Elias Karlsson gerade mit der Spanierin Carla Mack und der Dänin Vivian Nissen in einwandfreiem Deutsch, wie sie sich in den vergangenen Wochen für ein Projekt durch die Räterepubliken in Ungarn und Bayern gewälzt haben. 24 Oberstufenschüler aus gut einem Dutzend EU-Staaten, die Eltern der meisten Kinder im Haus arbeiten beim Europäischen Patentamt, Geschichte wird jeweils in der ersten Fremdsprache unterrichtet - europäischer geht es kaum.

Das Ergebnis ihrer Arbeit hängt, pünktlich zum "100-Jährigen" der beiden Revolutionen, nur ein paar Straßenblöcke weiter. Im Foyer des Pepper Theaters zeigen große Plakate mit Originalzitaten, Schwarz-Weiß-Bildern und Zeitungsschnipseln wie ähnlich die Entwicklungen in beiden Ländern doch waren: kriegsmüde Bevölkerung, Sturz der Monarchie, Kampf um grundlegende Arbeits- und Wahlrechte in einer zwischen Rätesystem und Parlamentarismus schwankenden Halbdemokratie und - letztlich - blutige Gegenrevolution.

"Menschen, die vielleicht nicht so viel über diese Zeit wissen, sollten trotzdem einen groben Überblick bekommen", sagt die 17-jährige Szofia Nemes. Sie stammt selbst aus Ungarn. "Meine Großeltern sind in dieser Zeit aufgewachsen. Da habe ich viel über den Ursprung der ungarischen Mentalität mitbekommen."

Doch wie packt man solch ein - für einen Teenager vielleicht sperriges Thema - am besten an? Nissen wuchtet einen dreifingerbreiten Stapel Papier hervor und blättert. "Das waren wahnsinnig viele Kopien." Bücher, teilweise nicht einwandfrei aus dem Ungarischen übersetzt, Material aus dem Staatsarchiv, Bilder aus der digitalen Fotosammlung des Freistaats. "Anfangs waren wir ein wenig überfordert", gesteht Mack. Die Aufgabe: Aus Dokumenten mit Schachtelsätzen und historischem Kleinklein das Wichtigste verständlich zu destillieren. Die Lösung: Kleingruppen. Sobald man die Texte einmal geschrieben hatte, sagt der Elftklässler Karlsson, "merkte man, dass sich die Arbeit an einer Ausstellung eigentlich gar nicht so sehr von einer normalen Präsentation unterscheidet".

Sein Lehrer Michael Wagner - gemusterte Krawatte, randlose Brille, Markus-Söder-blaues Sakko - wusste noch einen weiteren Anreiz zu setzen: Das Projekt war nur ein kleiner Teil der mündlichen Note. Bei Notendruck arbeiteten die Schüler gehemmter. "Für diejenigen, die nicht sonderlich gut in der Schule sind, gibt so etwas Motivation und Selbstbewusstsein." Im Gegensatz zu seinen Schülern war es für ihn nicht das erste Projekt dieser Art. Vor zwei Jahren klopfte, wie auch jetzt, das Kulturreferat bei ihm an. Heraus kam ein Symposion über die Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs in europäischen Geschichtsbüchern. "Das hat wohl imponiert."

Auch in diesem Jahr ist er zufrieden - zumal seine Schüler nach anfänglichem Backenaufplustern sichtlich reflektiert mit dem Thema umzugehen scheinen. "Vielleicht lernt man daraus, dass in Zeiten politischer Instabilität Leute schnell von radikalen Ideen überzeugt sind", sagt Mack im Hinblick auf die aktuellen politischen Verwerfungen in Europa. Für Szofia Nemes geht es auch um ihre eigene Identität. Bei der Vernissage hielt sie eine Rede auf Ungarisch, Landsleute sprachen sie an, lobten die Ausstellung. Klar, die Politik unterscheide sich derzeit natürlich stark voneinander, sagt sie. "Aber eigentlich sind die beiden Länder gar nicht so verschieden, wie man anfangs meinen könnte."

"Zwei Revolutionen, zwei Republiken: Bayern und Ungarn 1918": bis 24. Mai, Mi. bis Fr., 16 bis 19 Uhr, Pepper Theater, Thomas-Dehler-Straße 12.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4449936
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.05.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.