Süddeutsche Zeitung

Neuhausen:Gegen alle Vorurteile

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Ein Linienbus wird zur Bühne, Kinder sind die Zuschauer: Wie das Stück "Lillys Bus" mit viel Action und vor allem mit viel Humor im Hinterhof des Pathos-Theaters dafür wirbt, dass niemand wegen seiner Herkunft diskriminiert wird

Von Ellen Draxel, Schwabing

Lilly ist ein Energiebündel. Ein neunjähriges Mädchen mit ungeheuer viel Fantasie - so viel, dass man nie genau weiß, ob es nun die Wahrheit erzählt oder sich in Traumwelten hineinbegibt. "Ich sage Dir, ich bin eine Schwindlerin", verrät Lilly ihren Mitreisenden gleich zu Beginn des Ein-Personen-Stücks. Ein Satz, den sie während der gut einstündigen Inszenierung mehrmals wiederholen wird.

"Lillys Bus" ist ein etwas anderes Theaterstück. Es richtet sich an Kinder ab acht Jahren, spielt aber nicht in einem klassischen Zuschauerraum, sondern in einem zur Bühne umgebauten ehemaligen Linienbus, der im Hof des Pathos-Theaters an der Dachauer Straße 110 D steht. Lilly reist mit dem goldverzierten, beheizbaren Bus imaginär durch die Lande, nach Paris, an die Adria, nach Russland und zum Zuckerhut. Die Fenster des 30 Jahre alten Fahrzeugs sind innen mit Vorhängen verdunkelt, Scheinwerfer hängen an den Seitenwänden, das Heck wurde zur Bühne ummodelliert.

Wenn Schauspielerin Noemi Fulli alias Lilly durch den Bus turnt - was sie ununterbrochen tut -, hüpft, tanzt oder klettert die Protagonistin direkt an den Kindern auf ihren roten Sitzbänken vorbei. Und wird dabei von Kinderlachen begleitet. Denn dass Lilly ein bisschen schräg ist und ständig in andere Rollen schlüpft - mal ist sie eine Taube, mal ein Tanzbär, dann Oma und Opa, Polizist, Gräfin Dracula -, können ihre jungen Zuschauer gut nachvollziehen. Für die Kinder ist es auch einleuchtend, dass Lilly mit dem Bus spricht und ein Seil als Telefonschnur benutzt oder einen Windeleimer als Toilette zweckentfremdet.

Pippi-Fans erinnert Lilly ein wenig an die Heldin der Astrid-Lindgren-Geschichten - zumal die gebürtige Römerin Fulli die Lilly extrem temperamentvoll, fröhlich und kommunikativ verkörpert. Der Unterschied zu Pippi Langstrumpf: Lillys Realität sieht anders aus, als sie es im Bus zeigt. Denn Lillys Vater ist Sinto, ihre Mutter Deutsche - und obwohl das Mädchen fasziniert davon ist, zum "fahrenden Volk" zu gehören, ist sie in Wahrheit nie aus München rausgekommen, weil der Familie das Geld dafür fehlt. Also flüchtet sie sich in erträumte Kindheitserinnerungen. Insofern ist "Lillys Bus" auch ein Stück für Erwachsene: vielschichtig, mit tiefem, humorvollem Einblick in die Seelenräume und die Identitätssuche eines Teenies, der schon früh mit Vorurteilen konfrontiert wurde.

"In Lillys Bus geht es um Rassismus und Antiziganismus und um das Erfinden von Geschichten, die der Hauptfigur helfen, ihr Leben zu meistern", erläutert Autorin und Regisseurin Maja Das Gupta. So zieht Lilly, die von Mitschülern als "Zigeunerkind" und "Zimmerpflanze" gemobbt wird, gleich zu Beginn der Fantasie-Busreise ihren langen "Zigeuner"-Rock aus und wirft ihn in die Ecke. Handwerkerkluft ist ihr sympathischer. Danach fragt sie die Kinder, ob sie glaubten, sie, Lilly, sei dreckig? Und eine Diebin? Die beiden Geldbeutel, die Lilly daraufhin aus der Tasche zieht, habe sie auf dem Flohmarkt erstanden, erzählt die Titelheldin. "Vorurteile zu thematisieren ist wichtig", findet Das Gupta. Die "Gratwanderung" bestehe darin, dies zu schaffen, ohne zu diskriminieren. Lilly hat die 45-jährige Dramaturgin daher als "Pinocchio-Figur" gestaltet - als fröhliche Person, die mit allem spielt und bewusste oder auch unbewusste Spitzen setzt.

Am Landestheater Sachsen, wo "Lillys Bus" 2012 uraufgeführt wurde, ist das Stück mittlerweile ein Renner und dauerhaft im Spielplan. In München ist die Inszenierung diese Woche zum ersten Mal zu erleben - samt Schreib- und Theaterworkshops für Schulklassen und Horte. Das Tagesheim Welzenbachstraße hat nach der ersten Probe am vergangenen Mittwoch im Theaterworkshop ein Rhythmusorchester mit rollenden Rädern, quietschenden Sitzen, plappernden Mikros und hupendem Lenkrad erarbeitet. Und die Schreibgruppe durfte das Leben im Bus aus Sicht von Gegenständen zu Papier bringen. "Ich war am Strand der Adria und habe das Meeresrauschen genossen", ließen die Schülerinnen Erjona, Nina und Alketa Lillys Gitarre sagen. "Aber warum zupft Lilly immer an mir herum? Ich bin doch so kitzelig und mag es am liebsten, zu chillen." Zugehört haben die Mädchen Lilly also offenbar. Um danach, ganz nach Lillys Manier, ihre eigene Interpretation weiterzuspinnen.

Das Pathos zeigt "Lillys Bus" zu sieben Euro je Karte am Donnerstag und Freitag, 28. und 29. November, jeweils um 10 und 15 Uhr sowie am Samstag und Sonntag, 30. November und 1. Dezember, um 15 Uhr im Hinterhof der Dachauer Straße 110.

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Quelle:
SZ vom 27.11.2019
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